: Die gute alte Mauer so nah
Auch 15 Jahre nach dem Mauerfall existiert diese in mehrfacher Realität. Es halten sich hartnäckig Bauwerke und Wendeschleifen aus der Zeit der Teilung. Nischen, in denen man sich eingerichtet hat
VON ROLF LAUTENSCHLÄGER
Anfang November steht das Ehepaar Trewis, beide Ende 60, auf seinem Balkon in der Bernauer Straße, Stadtteil Wedding. Als eine Stimme „jetzt“ ruft, streckt Trewis seine Hand aus und zeigt in Richtung Berliner Mauer und dahin, wo sich zahlreiche Kreuze zur Erinnerung an die Toten der berühmt-berüchtigten ostwestlichen Stadtgrenze befanden. „Danke“, sagt die Stimme. Auch die beiden scheinen zufrieden. Trewis und seine Frau, die seit den 1950er-Jahren in dem Nachkriegsbau wohnen, haben wohl schon über tausendmal so nach „drüben“ geguckt, dass es ihnen ins Blut übergegangen ist. Vielleicht hat sie darum das Fernsehteam für den Beitrag ausgesucht. Es ist November 2004. In der Bernauer Straße herrscht Hochbetrieb in Sachen Mauer, Mauerfall und Mauergeschichten zum 15. Mauerfall-Geburtstag am 9. November.
Bernauer Straße: „Alles aussteigen“
Jenseits der gespielten Erinnerungen und der aufbereiteten Vergangenheiten, die uns in diesen Tagen in medialer Omnipräsenz begegnen, existiert die Berliner Mauer noch als mehrfache Realität in der vereinigten Stadt. Schaute man auf einen Stadtplan in der Nahsicht, begegnet sie uns in Rudimenten oder im gepflasterten Verlauf, in der Weitsicht durch ein Band neuer Häuser.
Es ist paradox: Gerade da, wo man glaubt, die Mauer am meisten vergessen machen zu können – durch Neubauten, neue Plätze oder Straßen –, sticht ihr einstiger Verlauf umso deutlicher heraus.
Zugleich besteht ihre Existenz in der Haltung, mit den alten Gewohnheiten und Spuren nicht aufzuräumen. An der Bernauer Straße wird das Leben mit dem Rücken zur Mauer dadurch deutlich, dass antrainierte Sichtweisen, wie das „Hinüberblicken“ etwa der Familie Trewis, nicht als Verhaltensauffälligkeiten gelten. Wie auch, wenn den Mauerverlauf heute exakt eine Baumreihe nachzeichnet.
Nach ein paar Schritten weitet sich die Bernauer Straße gar zu einem Rondell – die frühere Wendeschleife für den Bus nach Wedding. Selbst neue Buslinien sind der spezifischen Berliner Tradition der Unterbrechung geschuldet. Der neue 120er-Bus kommt die Bernauer entlang, er endet aber kurz hinter der einstigen Schleife.
Umgekehrt hat sich auf der östlichen Seite die gleiche Tradition erhalten. Die Trambahn von der Warschauer Straße macht am Gelenk Eberswalder-, Bernauer Straße eine Kehre. Erst 2006 soll die Tram in den „Westen“ fahren. So steht es zumindest auf einem Schild. Erst dann könnte das „Alles aussteigen“ ein Ende haben.
Kieler Straße:„Achtung, Grenzgebiet“
Wohl nicht von ungefähr soll der Flaneur auf die Vergangenheiten aus Sektorengrenze und Schießanlagen eingestimmt werden. Folgt man an der oberen Chausseestraße der abzweigenden Boyenstraße, die einst mit dem Verlauf der Mauer einherging, ist die Gegenwart des heutigen Berlin entrückt. Stattdessen erscheint ein Niemandsland aus Asservaten der Teilung. Mit diesen leben dort die Bewohner, leben die Patienten des nahen Bundeswehrhospitals, leben die Spaziergänger, „Dogwalker“ und Beamte des nahen Wirtschaftsministeriums.
Die Zeit steht still in der Boyenstraße. Sie steht still rund um die vereinzelt gebliebenen Gewerbebauten, deren Fenster zum Teil noch zugemauert sind. Sie steht still an der „Promenade am Berlin-Spandauer-Schifffahrtskanal“, zu dem die Boyenstraße hinführt und an dessen Ende die Gräber des Invalidenfriedhofs noch ebenso abgeräumt geblieben sind wie zu Mauerzeiten. „Bines Friseurladen“ gegenüber dem Friedhof, ein Geschäft hinter Gardinen, das auf den ersten Blick nicht ans Haareschneiden denken lässt, steigert nur mehr den Eindruck von der Gegenwart der Mauerzeit.
Dann kommt es ganz hart: „Wir leben ein wenig wie in der Geschichte und wie in den Jahren der Teilung. Dass nicht einer ruft, ‚Halt, stehen bleiben!‘, fehlt eigentlich nur noch“, bemerkt ironisch eine Anwohnerin der kleinen Kieler Straße, die gleichfalls im früheren Absperrareal am Kanal liegt. Aber man hat sich arrangiert – wenn auch mit einer provokanten Situation: Ein Wachturm der DDR-Grenztruppen wurde dort erhalten und zum Denkmal erhoben. „Gedenkstätte Günter Liften. Erschossen am 24. August 1961“ steht am Turm, was eigentlich nichts Ungewöhnliches ist in Berlin.
Ungewöhnlich ist, rund um den Wachturm ein Haus zu errichten, sodass der Wachturm nun quasi im Garten steht als Mahnung an die Geschichte. Die Kieler Straße ist das Leben mit der Mauer.
East Side Gallery:„Wo ist Kreuzberg?“
Zu den wenigen erhaltenen längeren Mauerresten gehört ein ungefähr ein Kilometer langes Stück entlang der Mühlenstraße. Bis heute gilt die East Side Gallery, wie der einst kunstvoll bemalte Mauerabschnitt genannt wird, als Original aus Mauerzeiten. Was natürlich nur zur Hälfte stimmt, war doch die Mauer auf der östlichen Seite niemals bemalt und schon gar nicht ein Kunstwerk.
Zum Ausdruck bringt aber bis heute die East Side Gallery – die eigentlich abgerissen gehörte, damit man endlich einmal wieder über die Spree bis nach Kreuzberg schauen kann – etwas Nostalgisches: Bis zu ihrem Sturz 1989 war die Betonwand zugleich Fläche, die als Malwand inspirierte. Von der Westseite wurde sie bunt bemalt, beschmiert, besprüht – immer wieder neu. Mit der Mauerkunst hat man „sie sich angeeignet, an sie gewöhnt und in das Alltagsleben integriert“. So sieht es jedenfalls der frühere Bürgermeister Walter Momper.
Als Symbol und Funktion dieser Erinnerung teilt die East Side Gallery dennoch bis dato Friedrichshain von Kreuzberg. „Drüben“, im Ostteil, spielt sie das Bollwerk aus Kunst und Beton, in deren Schlagschatten sich Touristen, aber auch der Alltag sich gleichmütig bewegen. Man fährt daran vorbei, guckt sie an, befühlt die Mauer. Durch sie hindurch scheint niemand zu wollen, zumal sie mit einem Souvenirladen auf der Friedrichshainer Seite ganz der Erinnerung verpflichtet scheint.
Umgekehrt findet „hüben“ dasselbe statt. Während sich entlang der Spree überall Parks, neue Bauwerke und Brücken entwickeln, bleibt just das Kreuzberger Gegenüber zur East Side Gallery im Dornröschenschlaf. Gewerbe, Lagerhallen, „Zapf“, Ruinen, Ufermauern und die nach wie vor gekappte Brommystraße, die einst über den Fluss führte, bestimmen die Gegenwart – die Gegenwart der Vergangenheit. „Endhaltestelle“ lautet die Reklame über einer Eckkneipe an der Köpenicker. Drinnen wird laut palavert, auch das Schild sagt, was Sache ist.
Heidelberger Straße:„Sackgasse“
Auf dem Schulhof der Ernst-Friedrich-Oberschule im Bezirk Treptow wird geraucht. Heimlich natürlich. Die Schwaden ziehen nach Osten ab. Auch Fußball gespielt wird auf dem Schulhof. Das Tor liegt an einer Wand, die das Schulgelände vom Nachbargrundstück trennt. Das Nachbargrundstück war die Sektorengrenze zwischen Treptow und Neukölln, die Wand bildete die so genannte Hinterlandmauer, die die Schule von der Grenze und der Heidelberger Straße im Westteil abhängte. Die Mauer ist so hoch, dass der Rauch automatisch nach Osten abzieht.
Dass sich im Schulhof räumlich nichts verändert hat seit dem Fall der Mauer, gibt der Schülerin Maja zwar zu denken, eine Beschränkung der Gewohnheiten sieht sie aber nicht. Im Gegenteil. „Klar, wir sehen nichts in Richtung Neukölln.“ Da sei „ja die Mauer vor“. Auch die Erschließung der Penne von den Straßen und Wegen der Treptower Seite geht sie wie automatisch. Die Mauer ist da und in den Wegen und in den Köpfen.
Die Mauer ist weg, aber in den Wegen und Köpfen auf der Neuköllner Seite ist sie noch ebenso existent wie ein paar Meter weiter. Trotz der Nähe der Bezirke. Im Gegensatz zum Mauerverlauf in Mitte oder am Potsdamer Platz, wo ganze Häuserblocks für den Grenzstreifen weggefegt wurden und regelrecht Raum schafften, zerschnitt oft nur ein schmaler Sektor die Wohngebiete zwischen Neukölln und Treptow. Man sah sich, wenn man wollte. Bis heute jedoch sind die Chiffren der Ignoranz dort augenscheinlich. Wer die westseitige Heidelberger Straße entlanggeht, geht an Häuserblocks ohne Fenster und Türen zum Osten vorbei. Die Häuser wurden nach 1960 gebaut. Wer die Blocks verlässt, wendet sich in Richtung Autoparkplatz noch tiefer nach „Westen“. Und wer gar die Absicht hätte, um die Ecke zu biegen und nach Treptow zu fahren, kann das nicht. „Sackgasse“ steht da.
Hinter dem Verkehrsschild tut sich bis zum Absperrgitter am Ende der Sackgasse, die bis 19961 keine war, so genannter öffentlicher Stauraum auf für Pkw, Motorräder und Müll. Zusammengefegte Blätter erinnern derzeit an eine Idylle. Berliner sind in der Lage, überall Idyllen zu schaffen. Diese typischen Nischen sind wichtiger als die Einheit.
Zimmerstraße:„Offene Wunde“
Die Internationale Bauausstellung Berlin (IBA) hat sich ihren Namen gemacht mit dem Konzept der Wiedergewinnung und Rekonstruktion der Innenstadt. In Kreuzberg wurden in den 1980er-Jahren die Bombenlücken bebaut, der Stadtgrundriss wieder hergestellt, Urbanität erhalten und geschaffen. Dass die Stadterneuerung nur bis zur Mauer reichte, war der Tatsache der Teilung der südlichen Friedrichstadt geschuldet. Sie war die Begrenzung, der Hinterhof, der Garten für die Architekturen.
In der Zimmerstraße sind seit dem Fall der Mauer die Spuren des Grenzverlaufs mit Neubauten verwischt worden. In der Zimmerstraße Nummer 2 bis 9, Ecke Wilhelmstraße dagegen steht der Kontrapunkt zur Gegenwart: Die IBA hat hier eine kleinstädtische Wohnhauszeile mit Grünfläche zur Mauer errichtet. Die Eingänge sind in der Kochstraße – und das bis heute.
„Zur Mauer soll nichts aufwändig Endgültiges, auch nichts provisorisch Flüchtiges realisiert werden, sondern normale Bebauung. Zu dieser Normalität gehört die Hinnahme der Mauer – aber auch das Offenhalten des Wundrandes, um später ein Zusammenwachsen mit dem Nachbarstadtteil zu erleichtern“, schrieben damals die Architekten. Daran hat sich im Jahr 2004 nichts geändert. Die Mauer bleibt fühlbar.