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Die gute Verkehrsfee

Warum es sich für öffentliche Verkehrsunternehmen lohnt, Kunden mit Gratisangeboten zu locken. Einen lohnenden Pilotversuch beschreibt  ■ Felix Berth

In Baunatal bei Kassel lebte Familie W., ein Ehepaar mit zwei Kindern. Familie W. hatte ein Auto, eine ADAC-Rechtsschutzversicherung und keine Ahnung vom öffentlichen Verkehr. Eines Tages aber bekam Mutter W. einen Anruf von einer guten Fee, die wissen wollte, ob die W.s vielleicht mal mit der neuen Straßenbahn vor ihrer Haustür fahren möchten.

Mutter W. sagte ja, bekam einen Fragebogen und durfte schon bald kostenlos einen Monat lang die Kasseler Straßenbahn ausprobieren. Familie W. war gerührt, fuhr fortan viel mit der neuen Bahn und schickte der guten Fee sogar eine Weihnachtspostkarte: „Wir wünschen Ihnen und Ihren Mitarbeitern ein geruhsames Weihnachtsfest und einen guten Rutsch ins neue Jahr.“ Die Karte trägt den Eingangsstempel vom 23. Dezember 1995.

In Hannover lebte eine ältere Dame namens Anna M., die schon jahrelang die Straßenbahn benutzt hatte. Als auch sie von einer guten Fee gefragt wurde, was denn zu ihrem Fahrgastglück fehlen würde, antwortete sie: ein paar Fahrpläne und Ideen für Tagesausflüge. Zwei Tage später lagen die gewünschten Pläne in ihrem Briefkasten, und sie sandte gerührt einen Dankesbrief: „Sie glauben nicht, welche Freude Sie mir damit gemacht haben.“ Ihr Brief wurde am 20. Mai 1996 abgeschickt.

Wahre Geschichten aus einem Land, in dem die Kunden des öffentlichen Verkehrs normalerweise „Beförderungsfälle“ heißen und viele Schaffner noch immer eine höhere Staatsmacht zu repräsentieren glauben. Einem Land, in dem die Fahrpläne von Experten für Experten gemacht sind und mit enormen Sprachgebilden beeindrucken: „Besteht eine Gruppe aus Teilnehmern bis zum und solchen ab dem vollendeten 15. Lebensjahr, kann die freie Fahrt für Teilnehmer ab dem 15. Lebensjahr in Anspruch genommen werden“, formuliert zum Beispiel der Münchner Fahrplan – übrigens in einer Rubrik, die allen Ernstes „Bartarif“ heißt.

Daß die beiden Geschichten trotzdem geschehen konnten, hat viel mit dem Ärger eines Mannes zu tun. Dieser Werner Brög leitet seit Jahren das Institut Socialdata und versucht, den Verantwortlichen in deutschen Städten zu erklären, daß es nicht nur auf ein akzeptables Angebot von Bussen und Bahnen ankommt, sondern ebenso auf gutes Marketing. Doch weil das die meisten Verkehrsbetriebe kaum interessierte, versuchte Socialdata 1991 in Kassel ein erstes Experiment in eigener Regie – „ein reines Wut-Vorhaben, weil sonst überhaupt nichts passiert wäre“, sagt Werner Brög heute.

Fünfhundert Haushalte bekamen damals jeweils ein Gratis-Monatsticket der Kasseler Verkehrsbetriebe, um Busse und Bahnen auszuprobieren. Der Erfolg war groß und gleichbleibend: Im Testmonat nutzten sie den öffentlichen Verkehr (ÖV) zweieinhalb mal so häufig wie vorher. Nach einem Jahr blieb bei ihnen eine Verdoppelung des ÖV-Anteils erhalten, die sich sogar vier Jahre später, also 1995, noch im gleichen Ausmaß nachweisen ließ. Natürlich waren die Kasseler Haushalte nicht beliebig ausgewählt. In einer aufwendigen Telefonaktion wurden zwei große Gruppen von vorneherein aussortiert: Jene, die von öffentlichem Verkehr generell nichts wissen wollten, und jene, die schon Kunden waren (wobei man sie, wie die bereits erwähnte Anna M., mit anderen Serviceleistungen wie Fahrplänen bediente, um sie nicht zu verprellen). Übrig blieben fünfhundert potentielle Umsteiger, die sich als dankbare Gruppe erwiesen haben. Denn unter ihnen sind viele, die die Straßenbahnen seit dem Gratis-Testmonat für alle möglichen Erledigungen in ihrer Freizeit benutzen – und relativ wenige, die die Straßenbahnen im Berufsverkehr noch voller machen, als sie sowieso schon sind. „Man kann sagen, daß wir in den Nebenverkehrszeiten den kräftigeren Zuwachs haben“, sagt Rainer Meyfahrt von den Kasseler Verkehrsbetrieben.

Der Aktion in Kassel folgte ein Test in Nürnberg, bei dem die Zielgruppe ein ähnliches Verhalten zeigte: Die Zahl der Fahrten mit Bussen und Bahnen verdoppelte sich bei denen, die mit Tickets geködert wurden – und zwar nicht nur kurz-, sondern auch langfristig. In den letzten zwei Jahren ließen sich daraufhin mehr als zehn deutsche Verkehrsbetriebe überzeugen, ihre Kunden mit direktem Marketing und derartigen Sonderaktionen anzusprechen.

Beim bisher größten Projekt in Hannover wurden im Sommer 96 ungefähr 40.000 Einwohner „kontaktiert“, wie das im Marketing- Deutsch heißt. Über tausend potentielle Umsteiger bekamen danach Besuch von „Mobilitätsberatern“ und durften einen Monat lang kostenlos mit Hannovers Straßenbahnen fahren. „Die Reaktionen unserer Kunden waren ungeheuer positiv“, sagt Dieter Heinisch vom Hannoveraner Verkehrsbetrieb. Zwar liegen die genauen Ergebnisse noch nicht vor, doch Heinisch rechnet damit, daß enorm viele Neukunden gewonnen wurden. „Wir gehen deshalb davon aus, daß in Zukunft jedes halbe Jahr ein Teil von Hannovers Innenstadt damit beglückt wird.“

Direktes Marketing nach diesem Modell ist allerdings nicht ganz billig. Das Institut Socialdata kalkuliert pro Testperson zwischen zwanzig und vierzig Mark. Hannover zum Beispiel hat insgesamt eine halbe Million Mark für den Versuch springen lassen.

Doch natürlich verdient ein Verkehrsbetrieb durch Direktmarketing gleichzeitig mehr – einfach weil die Zahl der zahlenden Kunden steigt. „In allen Städten zeigt sich, daß man im ersten Jahr die Summe zusätzlich einnimmt, die das Projekt gekostet hat“, sagt Werner Brög – was heißt, daß die Investition schon im zweiten Jahr Gewinne bringt.

Daß viele Verkehrsbetriebe solche Chancen nur nach langem Zögern nutzen – in Hannover zum Beispiel brauchte es die massive Unterstützung des Unternehmensberaters McKinsey –, findet Brög ärgerlich, aber auch typisch für die häufig trägen deutschen ÖV- Chefs: „Wenn ein Manager in der Privatwirtschaft bei dieser Datenlage solche Investitionen nicht für notwendig hält, wird er rausgeschmissen. Nur im öffentlichen Verkehr kann man sich das ungestraft leisten.“

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