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Archiv-Artikel

Die große Freiheit

Die Kluft zwischen allen Dingen: Pauls Toutonghi erzählt so locker wie traurig über eine Flucht aus Lettland und eine Pubertät in Amerika

VON ANDREA HÜNNIGER

Ein neuer Name: Pauls Toutonghi. Über die Aussprache ist man sich noch nicht ganz einig. Das könnte daran liegen, dass er Sohn eines ägyptischen Vaters und einer lettischen Mutter ist und zur ersten Generation der Familie gehört, die in den USA geboren wurde. Für alles Weitere muss man sich erst einmal durchfragen und durchgoogeln und findet schließlich ein gut gepflegtes Blog des 32 Jahre alten amerikanischen Schriftstellers. Darin kündigte er gerade an, dass sein deutscher Verlag auf dessen Webpräsenz einen Trailer zu seinem neuen Buch veröffentlicht hat: „I was amazed.“

Da klickt man natürlich drauf und stößt auf einen Calvin-Klein-Dreitagebart, der eine Zigarette raucht und Jack Daniel’s trinkt. „In seinen Träumen war mein Vater glücklicher. Schon damals in Lettland träumte er von Amerika. Egal, was die Sowjets sagten. Egal, was sie ihm taten. Mein Vater liebte Bourbon. Er träumte von amerikanischen Autos. Er liebte den Country und er liebte den Blues.“ Das liest eine Off-Stimme aus dem Buch vor. „Heute leben wir in Milwaukee Wisconsin und mein Vater träumt weiter.“

Im Grunde ein ziemlich langweiliger Trailer, wenn man ehrlich ist. Aber die Sprache entfaltet bald große Wirkung – mit ihrer Mischung aus lakonischem Humor, Verzweiflung, völliger Verwirrung und Hoffnung. Yuri Balodis, der Ich-Erzähler, ist im besten Teenageralter, um sich in Mädchen zu verknallen, Bücher zu lesen, langsam erwachsen zu werden. Seine Eltern sind aus Lettland geflohen und haben sich bemüht, ihren Sohn so amerikanisch wie möglich aufwachsen zu lassen. Yuri kann kein Wort Lettisch. Die Mutter pflastert mit Werbungsausschnitten aus Zeitschriften die Wohnung, und Yuris Vater trinkt jeden Abend seine Flasche Bourbon, während er auf dem Balkon sitzt, wo er Yuri auch gern mal rund gefeilte Lettlandanekdoten erzählt.

Yuri aber versteht das alles nicht, versteht sich selbst und seine ganze Jugend nicht. Dieser Roman ist die Geschichte einer Spurensuche eines Nachgeborenen, eines Jungen, der sich nicht ganz zurechtfindet zwischen den Flüchtlingsgeschichten aus Lettland und der Leidenschaft für seine Schulfreundin, zwischen Literatur, die er verschlingt, und dem echten Dasein. Zwischen allem ist eine riesige Kluft. Pauls Toutonghi erzählt im Tonfall lockerer Naivität von einer zerrissenen Jugend, die keine mehr sein will.

Es ist das Jahr 1989, und Yuri verliebt sich in die Schulfreundin Hannah, weshalb er sie auch begleitet, wenn sie eine kommunistische Arbeiterzeitung verteilt. Für die Eltern ist das wenig erfreulich. „Kommunisten sind wie Ziegen. Sie kommen in dein Haus. Sie fressen alles auf. Sie machen sich überall breit. Sie lärmen entsetzlich herum. Und dann, bevor sie gehen, scheißen sie auf die Möbel“, sagt der Vater, der nach dem ersten Schock mit liberalen Erziehungsmethoden reagiert: „Sozialistisch, kommunistisch – alles dasselbe. Aber ich werde kein Problem für dich machen, Yuri. Ich habe es vorgezogen, dich als Amerikaner großzuziehen. Du hast die Freiheit, dumme Entscheidungen zu treffen, mein Liebling.“

Und Yuri nutzt diese Freiheit. Von einer Misere in die nächste kippend, begegnet er seinem fremden Leben wie ein erschrockenes Kind. Zum Beispiel als er den Chevrolet Monte Carlo klaut und damit einen Unfall baut, weil er vorher den Bourbon seines Vaters und die Lippen seiner Beifahrerin Hannah verschlungen hat.

Solche Abenteuer der Pubertät sind in diesem Buch das eine. Das andere sind die Geschichten des Vaters, der erzählt, wie er im sozialistischen Lettland verfolgt und gefoltert wurde. Yuri selbst hat für die väterliche Tragik kein aufmerksames Ohr, sondern ist eher davon schockiert, wie sein Vater beim Fluchtversuch aus Lettland seinem Cousin mit dem Messer in den Oberschenkel pikt. Yuris noch schmale und hängende Schultern können noch nicht tragen, was ihm die Vergangenheit zumutet. Immer sind die Geschichten des Vaters viel zu groß, sie handeln von großen Musikern, großen Fluchtversuchen und besonders großen Träumen. Von Freiheit und all dem, was man so denkt, wenn man „Amerika“ sagt.

Dann fällt die Mauer. Während Yuris Eltern jubeln, verzweifelt Yuri an sich selbst. Bald kommt auch noch ein lettischer Onkel mit Familie in Amerika an. Für sie ist es das Schlaraffenland: der Supermarkt, Frühstücksflocken, Ketchup. Schon die Küche bietet ihnen ein Potpourri an Technik, von der sie nicht einmal gehört hatten.

Wirklich interessant an diesem Roman ist sein Ton. Es wäre ein glatter Plauderton, wäre da nicht auch diese Traurigkeit. Die Traurigkeit, die den Vater trinken lässt und Yuri neben dem Familiengeschehen, neben den Frauen, neben der Welt stehen lässt wie in einer Glasglocke. Pauls Toutonghi erzählt eine Geschichte über das Suchen von Heimat, die sich im Immigrantenleben der Eltern spiegelt, im Verliebtsein von Yuri, der, in Bäumen sitzend, auf Erleuchtung hofft, im Verhältnis zu seinem Vater, den er erst zu lieben beginnt, als es beinahe zu spät ist.

Der Roman ist eine Spurensuche. Die sorgfältig am Wegrand aufgelesenen einzelnen Bausteine türmen sich dann in der zweiten Hälfte der Geschichte nach und nach zu einem schlüssigen Konstrukt auf. Toutonghi baut seinem Yuri erst ein Gerüst, das an Katastrophentagen kräftig zu wanken beginnt und ihn dann zur Entwicklung treibt. Yuri wird, im allerbesten Sinn, erwachsen. Nicht ernster, nicht langweiliger, sondern vielstimmiger. Schönes Buch.

Pauls Toutonghi: „Die Geschichte von Yuri Balodis und seinem Vater, der eigentlich Country-Star war“. Aus dem Amerikanischen von Eva Bonné. Rowohlt Berlin, Berlin 2009, 368 Seiten, 14,90 Euro