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Archiv-Artikel

Die größere Gallwespe

Ein verschrobener und konservativer Wissenschaftler, der eher wider Willen zum Vordenker der Gegenkultur der Sechzigerjahre wurde: „Kinsey“ (Wettbewerb), Bill Condons Biopic über den Zoologen und Sexwissenschaftler Alfred Charles Kinsey

VON SVEN VON REDEN

Er sei „zuerst, zuletzt und immer“ ein Wissenschaftler gewesen, schrieb die New York Times 1956 in ihrem Nachruf. Nichts Ungewöhnliches für einen Professor, doch da Sex Alfred Charles Kinseys Forschungsgebiet war, schien der nachdrückliche Hinweis wohl angebracht. Als Pionier der empirischen Sexualwissenschaft hatte Kinsey zehntausende Amerikaner nach ihrem Sexualleben befragt. Die Ergebnisse wurden in zwei als „Kinsey-Reports“ berühmt gewordenen Büchern veröffentlicht, die das Selbstbild der USA nachhaltig verändern sollten.

Wie J. R. R. Tolkien war Kinsey ein verschrobener, letztlich konservativer Wissenschaftler, der einen Überraschungsbestseller veröffentlichte und – wider Willen – zum Vordenker der Gegenkultur der Sechzigerjahre gemacht wurde. Doch während Tolkien aus dem Studium toter Sprachen ein pathosgetränktes Epos machte, fasste Kinsey ein schlüpfriges Thema in trockene Zahlenkolonnen. Aus denen konnte man etwa entnehmen, dass 17 Prozent der auf Bauernhöfen aufgewachsenen Männer sexuelle Kontakte zum Vieh hatten. Der Skandal bei der Buchveröffentlichung blieb nicht aus.

Wie prekär Kinseys Erkenntnisse heute noch sind, deuten schon die ersten Einstellungen von Bill Condons Biopic an. Der Film beginnt schwarzweiß. Minutiös bereitet Kinsey einen seiner Mitarbeiter darauf vor, den Menschen privateste Geheimnisse zu entlocken. Eine freundliche Neutralität soll der Befragende ausstrahlen, egal wie schlüpfrig oder schockierend die Aussagen seines Gegenübers sein mögen.

Wie im Nachruf der New York Times wird im Film also zunächst der Wille zur Wissenschaftlichkeit von Kinseys Arbeit betont. Das Schwarzweiß soll Sachlichkeit signalisieren. Dafür nimmt Condon in Kauf, dass die Farbigkeit des nachfolgenden Rückblicks verwirrt, da er allen filmischen Konventionen widerspricht. Er zeigt, wie der Zoologe Kinsey sich bereits zu Beginn seiner Karriere durch sammelwütige Ausdauer auszeichnete. Zunächst beschäftigte er sich mit der Taxonomie der Gallwespe, der Erforschung ihrer Variationen: „Menschen sind lediglich größere und kompliziertere Gallwespen“, bemerkt er einmal.

Immer wieder testet „Kinsey“ die Grenzen dieser Aussage. Wie weit lässt sich der kalte, objektive Blick aufrechterhalten? Kinsey sammelt und beobachtet, auch da, wo seine Mitarbeiter Moral nicht mehr von Wissenschaft trennen können: bei den ausführlichen Schilderungen eines Pädophilen, bei Orgasmusexperimenten im Labor und Partnertausch-Versuchen im Institut.

Es ist der alte Topos des mad scientist, der hier anklingt. Kinsey als Frankenstein, dessen Forschung ihr menschliches Maß zu verlieren droht und Gefahr läuft, in ihrer Hybris Monster zu gebären. Doch die Monster müssen hier nicht erst erschaffen werden, sie stecken immer in uns. Kinseys Krux ist, dass er sie zumindest ein Stück weit herauslocken muss, um Maß zu nehmen.

Erst spät erkennt er, dass Moral und Tabus nicht nur Unwissen und Bigotterie befördern, sondern Menschen auch vor Verletzungen schützen. Eine konsensfähige Botschaft, könnte man meinen. Dennoch überrascht es nicht, dass „Kinsey“ letztes Jahr zum Reizthema für die christliche Rechte in Amerika wurde. Immer noch wird Kinsey von dieser Seite reflexhaft verantwortlich gemacht für alles von der sexuellen Revolution über das Gay Rights Movement bis hin zur Pädophilie. Passenderweise erreichen die gleichen Gruppen, dass über die Ursachen der Pädophilie in den USA kaum Forschungsgelder zu bekommen sind und somit Prävention kaum möglich ist.

Wenig scheint sich den letzten 50 Jahren verändert zu haben. So wurde „Kinsey“ von vielen US-Kritikern als einer der wichtigsten politischen Filme des letzten Jahres bewertet. Stimmen die Umfragen, dass mehr Amerikaner ihre Wahlentscheidung von „moralischen Fragen“ abhängig gemacht haben als vom Irakkrieg oder der Wirtschaftslage, dann ist „Kinsey“ in der Tat wichtiger als „Fahrenheit 9/11“.

„Kinsey“, heute, 19 Uhr, Berlinale-Palast, 20. 2., 9.30 Uhr, Berlinale-Palast, 20. 2., 22.30 Uhr, International