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Archiv-Artikel

Die ganze Stadt als Schule

Ein Projekt mit Schulverweigerern verschickt seine Schützlinge durch ganz Berlin zum Lernen. Die SchülerInnen sollen sich ihr Lernprogramm aus Praxisaufenthalten selbst erarbeiten. Auch der Normalunterricht besteht aus projektbezogenem Lernen

„Es geht uns mehr darum, Fähigkeiten und Fortschritte zu würdigen als auf Defiziten herumzureiten“

AUS BERLIN OLE SCHULZ

Von außen betrachtet, ist der viergeschossige Bau in Berlin-Kreuzberg schmucklos. 1844 als Mietshaus errichtet, wurde er 1901 zu einer Schule für „höhere Töchter“ umgebaut. Seit mittlerweile über zehn Jahren ist hier wieder ein Schulprojekt zu Hause, allerdings ein ungewöhnliches: „Stadt-als-Schule“. Frühere „Schulverweigerer“ sollen in der 9. und 10. Klasse Allgemeinbildung durch Lernen in der Praxis erwerben, genauer: durch Lernen in der ganzen Stadt.

Deswegen ist ein Besuch in der Schule in der Dessauer Straße selbst denkbar ungeeignet, um sich ein Bild vom Prinzip der Selbstbestimmung der Schüler zu machen. Denn die Lernenden der „Stadt-als-Schule“ verbringen drei von fünf Schultagen nicht im Schulhaus. In Berliner Betrieben, Verwaltungen, sozialen und kulturellen Einrichtungen absolvieren sie konkrete, bis zu halbjährige Praktika. Die Stadt soll so zum Lernort, zur Schule werden. Nicht für das Leben, lautet das Motto der Schule, sondern mitten im Leben lernen. Angesichts der beengten Räumlichkeiten in der Dessauer Straße wäre man sonst auch nicht in der Lage, rund 140 Jugendliche, die zurzeit die Schule besuchen, vernünftig zu betreuen.

Michael Härtig, einer der Gründer der „Stadt-als-Schule“, steht im Portal der Schule und hat für jeden Vorbeigehenden ein nettes Wort parat. Gegenseitiger Respekt im Umgang miteinander scheint etwas Alltägliches zu sein. „Obwohl die meisten der Schüler auf irgendeine Art und Weise mit Schule in Konflikt geraten sind“, sagt Härtig, „muss man bei uns nicht gucken, wer hinter einem steht.“ Die Gewaltquote liege nahe null, was bei den Adressaten der Schule schon ungewöhnlich sei. „Ich kann mir das nur so erklären, dass sie hier gemäß ihren Interessen lernen können. Sie werden nicht geknechtet und können sich frei entfalten.“ Links im Erdgeschoss gibt es eine kleine Küche, in der die Schüler ihr Frühstück selbst zubereiten, gegenüber wird gerade eine Werkstatt eingerichtet. In den Etagen darüber liegen die Klassenräume – nur, dass man hier nicht von „Klassen“, sondern von „Kommunikationsgruppen“ spricht.

„Stadt-als-Schule“ hat im Laufe der Jahre eine eigene pädagogische Methodik entwickelt: Am Semesteranfang wird mit jedem einzelnen Schüler ein individueller Lehrplan ausgearbeitet. Er kreist vor allem um die Tätigkeit außerhalb der Schule; die praktische Arbeit soll zu Fragen und Erkundungen führen. „Dann kristallisiert sich allmählich ein Interessenschwerpunkt heraus, der schließlich zu einem eigenen kleinen Vorhaben führt, der ‚Erkundungsaufgabe‘“.

Am Ende des Praktikums am außerschulischen Lernort muss jeder eine Dokumentation erstellen. Der Fantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt, die formalen Regeln, die eingehalten werden müssen, auf ein Minimum reduziert. Manche Schüler schreiben Gedichte, andere führen Tagebuch über ihr lehrreiches Praktikum oder machen eine Fotoserie über die Kostüme, die sie in ihrer Zeit am Theater genäht haben. Ein Schüler, der im Edelhotel Adlon gearbeitet hat, hat die wechselvolle und spannende Geschichte des Hotels aufgeschrieben.

Bei den Schülern scheint das Konzept gut anzukommen: Die Quote der Jugendlichen, die einen Abschluss machen – von der Haupt- bis zur Realschule – ist mit 60 Prozent hoch. „Das Verhältnis zu den Lehrern ist hier viel entspannter“, sagt die Schülerin Carolin Merkel. In der Realschule hatte die 15-Jährige dagegen ständig Ärger. „Man kriegt mehr Selbstvertrauen, weil einem nicht nur ständig negative Sachen gesagt werden. Und man wird selbstständig, weil man sich den Praxisplatz ja selbst suchen soll.“ Carolin hat in einem Café gearbeitet und zweimal in einem Kindergarten ein Praktikum absolviert. Das hat ihr so gut gefallen, dass sie jetzt Erzieherin werden will.

Die individuelle Wertschätzung und Förderung des einzelnen Schülers wird bei der „Stadt-als-Schule“ großgeschrieben. „Es geht uns mehr darum, Fähigkeiten und Fortschritte zu würdigen, als auf Defiziten herumzureiten“, sagt Schulleiter Guido Landreh. „Nur so können die Schüler die Motivation entwickeln, einen eigenen Weg zu beschreiten.“ Am liebsten hätte man auch ganz auf Noten verzichtet, doch die Schulverwaltung hielt das nicht für „justiziabel“. So schuf man ein ausgeklügeltes Punktesystem, das keine einfache Unterscheidung in Gut und Schlecht zulässt wie die herkömmliche Benotung.

Außerdem erhält jeder Schüler einen persönlichen „Bildungsbericht“. Darin stehen dann Bewertungen wie folgende: „Liebe Marina (Name geändert), allen deiner Texte ist eine bemerkenswerte sprachliche Originalität eigen, die du bisweilen noch mit einer Prise Humor garnierst – es macht schlicht und ergreifend Spaß, sie zu lesen.“ Auch die individuellen Schwächen Marinas werden angesprochen – jedoch mit Bedacht so formuliert, dass sie nicht verletzend wirken. „Der morgendliche Termin scheint mir dein Problem gewesen zu sein, denn fachlich wärst du den Anforderungen des Unterrichts immer gewachsen gewesen. Liebe Marina, was du zu leisten vermagst, wenn du gesund und anwesend bist, hat alle überzeugt.“

Weniger überzeugt war zunächst allerdings die Berliner Schulverwaltung von der „Stadt-als-Schule“-Idee, die einige Studenten der Fachhochschule für Sozialarbeit in Berlin 1983 von einem Besuch bei der New Yorker „City-as-School“ mit nach Hause gebracht hatten. „Dieses Konzept ist kein Schulkonzept“, beschied die damalige CDU-Schulsenatorin Hanna-Renate Laurien kurzerhand. Dann wurde das Projekt doch als Einrichtung der Jugendbildungsarbeit genehmigt, es folgte eine vierjährige Phase als Schulversuch. „Ende der 80er-Jahre standen wir wieder auf der Matte“, erinnert sich Guido Landreh. Man hatte Glück, dass es seinerzeit in Berlin kurzfristig eine rot-grüne Koalition gab, die dem Projekt aufgeschlossen gegenüberstand und den Schulversuch ausweitete. 2002 wurde das Projekt schließlich in eine Schule mit „besonderer pädagogischer Prägung“ überführt. Aufnehmen darf die „Stadt-als-Schule“ daher nur Jugendliche, die entweder in die 9. Klasse versetzt wurden oder die mindestens neun Jahre eine Schule besucht haben – gemein ist ihnen, dass sie irgendwelche schulischen Probleme hatten. Schulleiter Landreh will allerdings nicht von Verweigerern und schon gar nicht von Schulschwänzern reden. Er zieht das neutrale Wort „Schuldistanzierte“ vor: „Darunter sind Jugendliche mit Real- oder Gymnasialschulempfehlung, zum Teil auch einseitig Begabte, die zuvor keine adäquate Förderung erhalten haben.“

Neben den Praxislernprojekten gibt es bei der „Stadt-als-Schule“ heute auch regulären Unterricht. Er unterscheidet sich freilich von der üblichen Form und dem gewohnten Fächerkanon. Das projekt- und interessenbezogene Lernen steht etwa auch bei Deutsch, Mathematik und Englisch im Mittelpunkt – jenen drei Fächern, die nach Senatsvorgaben unterrichtet werden müssen. Michael Härtig erläutert das Vorgehen am Beispiel des Projekts zu 100 Jahren deutscher Geschichte: „Nach unserem Prinzip ‚vom Detail zum Allgemeinen‘ hatte jeder Schüler die Möglichkeit, sich ein Erkundungsthema selbst zu suchen. Einer hat dabei einen Zeitzeugen ausgegraben, der früher als Kofferträger am Anhalter Bahnhof gearbeitet hat. Aus Erfahrungen wie dieser ergeben sich grundlegende Fragen, die wir in der Kommunikationsgruppe miteinander besprechen.“ Damit die Lehrer sich individuell um die Schüler kümmern können, wird eine solche Gruppe immer von mehreren Pädagogen betreut.

Zurzeit ist man bei der „Stadt-als-Schule“ damit beschäftigt, sich auf die neuen zentralen Prüfungen vorzubereiten. Angst vor dem Vergleich mit den Regelschulen hat man aber nicht. Schulleiter Landreh: „Wir haben eine gewisse Freiheit, aber am Ende müssen die Ergebnisse stimmen.“ Allerdings glaubt der Rektor auch, dass es durchaus sinnvoll wäre, wenn man ähnliche Angebote nicht nur schuldistanzierten Jugendlichen anbieten würde: „Was schwierigen Schülern hilft“, so Landreh, „das müsste bei normalen doch noch besser funktionieren.“ Warum also nicht schon früher als mit der 9. Klasse beginnen?

Das war auch ursprünglich das Ziel der damaligen Initiativgruppe, die eigentlich eine Gesamtschule gründen wollte.