: Die freie Welt
■ Deutsche Erlebnisse einer Ostlerin in der S-Bahn
Berlin. Nur die richtige Wahl der Kleidung hilft noch lange nicht, (bloß keine Jeans von JUMO - ehemals Jugendmode oder Stonewash aus , Gott hab sie selig, DDR-Exquisitgeschäften), um in den verschiedensten Situationen nicht doch als DDR -Bürger entlarvt zu werden. Gestern morgen in der S-Bahn nach Wannsee war es wieder so weit. Als der Zug in den Bahnhof Zoo einfuhr, stiegen vier neue Fahrgäste zu, zwei Pärchen im Alter zwischen 18 und 25 Jahren, bestens gelaunt und paffend wie die Weltmeister. Aber was mache ich aufgewachsen im Dünkel kommunistischer Diktatur - ich rege mich über die qualmenden Zigaretten auf. Nun machen sie die Zigaretten natürlich erst recht nicht aus. Nein, hier ist nämlich die freie Welt, aber das können wir im Osten natürlich gar nicht nachvollziehen, was es heißt frei zu sein, werde ich von einem der vier belehrt. Na schön, denke ich mir, und öffne wenigstens ein Fenster. Ob ich denn, wenn tausend nach Schweiß stinkende Polen in der S-Bahn wären, mich das auch trauen würde, werde ich gefragt, da wären wir Ostler nicht so mutig. Am besten wäre es, wird mir weiter beschieden, wenn man wieder einen fünf Meter hohen Zaun errichten würde, mit Strom und Selbstschußanlagen dazu. Ihr Ostler kennt ja eh nur die Diktatur habt keine Ahnung, was Freiheit heißt. Dann unterbricht der Wortführer seinen Monolog mit einer Strophe aus dem nationalsozialistischen Liedgut. „Kennste auch nich, wa?, fragt er mich lauernd. „Von nischt habt ihr ne Ahnung, von Dachau nicht und von Sachsenhausen auch nicht“.
Damit lehnt er sich sichtlich befriedigt zurück. Während die beiden Freundinnen in der anderen Ecke schadenfroh kichern, nimmt sein Freund den Faden wieder auf. Ob ich denn glücklich über den Sieg der deutschen Fußballmannschaft sei, fragt er mich und wippt freundlich mit seinen Springerstiefeln. Ich nicke brav. „Na wenigstens etwas“, freut er sich. Ihn ärgert ja eigentlich nur, daß die im Osten einfach alle mitgefeiert haben. „Was haben die denn damit zu tun?“
Markstein
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen