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Die erkenntnis, dass die private schnappschussKultur ermüdend und ekelhaft ist, hängt wohl mit dem alter zusammenFotografierte ohne Würde

Foto: Lou Probsthayn

Fremd und befremdlich

KATRIN SEDDIG

Ich war zehn Jahre alt, als ich mir für 20 Ostmark meinen allerersten Fotoapparat kaufte. Ich fotografierte als erstes meine Mutter, meinen Vater, meine Schwestern. Dann fotografierte ich eine ganze Weile nichts mehr, weil ich das Entwickeln und die Abzüge von meinem Taschengeld bezahlen musste. Später kaufte ich mir teurere Fotoapparate und fotografierte mehr, weil ich mehr Geld hatte.

Richtig viel fotografierte ich ab dem Tag, an dem ich eine Digitalkamera geschenkt bekam. Von jedem Kindergeburtstag machte ich hundert Bilder, vom Urlaub tausend. Es gab eine lückenlose Dokumentation meines Lebens, bis die Festplatte meines Computers durch einen Magneten zerstört wurde. Die erste digitale Phase riss ein großes Loch in mein fotografisch dokumentiertes Leben. Jahre meiner Kinder waren verschwunden, weil ich keine Sicherheitskopie von meiner Festplatte gemacht hatte.

Mittlerweile bin ich müde, ja angeekelt von der privaten Schnappschusskultur. Auf meiner letzten Kurzreise machte ich kein einziges Foto mehr, weder mit dem Handy noch mit dem Fotoapparat, den ich immer noch besitze. Mir wurde irgendwann bewusst, dass niemals der Tag kommen wird, an dem ich mir diese unglaubliche Menge an Bildern und Filmen werde ansehen können.

Ich lebe noch. Ich bin ja bei meinem eigenen Leben noch dabei. Ich habe nicht die Zeit, ein und dasselbe Leben zweimal zu leben, einmal in echt und einmal in Bildern, die ich mir ansehe. Vielleicht hängt diese Erkenntnis mit dem Alter zusammen.

In unserer Welt wird viel fotografiert, oft heimlich. Die Leute zücken ihr Handy und fotografieren mich. Ich stehe zufällig in ihrem Foto, oder weil ich komisch aussehe, oder an einer Demonstration teilnehme, ich werde Teil eines Beweisfotos. Ich bin auf sehr vielen Fotos, von denen ich nichts weiß, meine Kinder sind auf vielen Fotos, von denen sie nichts wissen. Wir werden nicht gefragt.

Vielleicht sind wir jemand, zu dessen Bild man wichsen kann, vielleicht stehen wir auch nur im Weg herum, aber wir alle werden ständig fotografiert. Wenn ich ein Mensch bin, der aus der Menge heraussticht, weil ich anders aussehe, weil ich mich anders kleide, eine von der Norm abweichende Figur habe oder weil ich blutend auf der Erde liege, dann werde ich gezielt fotografiert. Ich werde Teil des Vergnügens, der Befriedigung derer, die Anerkennung wollen.

Es genügt ihnen nicht, dass sie mich mit eigenen Augen sehen, sie wollen in ihrer Ansicht bestätigt werden, sie gehen mit mir, mit meinem Bild, hausieren. Menschen sind schwer erziehbar, besonders anständig waren sie noch nie, damals schon nicht, als ich mir mit zehn Jahren meinen ersten Fotoapparat gekauft habe, die Möglichkeiten waren nur andere.

In vielen Freibädern Niedersachsens ist jetzt das Fotografieren verboten worden. Im Freibad haben die Leute naturgemäß wenig an. Sie räkeln sich auf dem Handtuch, sie tragen Bikinis, man sieht ihre Bäuche, ihre Brüste, ihre Körperbehaarung, man sieht sie nah und intim. „Guck mal, der“, sagten wir als Kinder und verzogen das Gesicht.

Aber wir hatten kein Handy. Wir machten kein Foto von einem Menschen, der uns komisch, weil anders, vorkam, wir gingen mit unserer Abscheu und unserem Ekel vor einem Menschen nicht noch hausieren, indem wir diesen Menschen öffentlich machten und andere zu einem Urteil herausforderten.

Dieses Verhalten ist unanständig, dieses Verhalten ist kalt, es nimmt dem Fotografierten die Würde. Es steht uns nicht zu, andere Menschen ungefragt, heimlich, zu fotografieren. Schon gar nicht halbnackt. Es braucht eine öffentliche Debatte darüber. Wir müssen unseren Kindern beibringen, dass es falsch ist.

Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Eine Nacht und alles“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.

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