: Die erforschlichen Wege des Herrn
Heute im Halbfinale der French Open: Becker - Edberg, Chang - Chesnokov ■ Aus Paris Matti Lieske
Wenn es, trotz gegenteiliger Beteuerungen zahlreicher Philosophen, doch so etwas wie Wahrheit gibt, dann liegt sie im Wetterbericht der „Meteorologie Nacional“ von Paris. Jeden Tag liefert diese ihr „Meteorologisches Bulletin“ für das Tennisturnier von Roland Garros, das etwa folgendermaßen ausfällt: „Welch Wasser! Welch Wasser! Am heutigen Morgen wird, trotz kleinerer Perioden der Beruhigung, der Regen vorherrschen bei Roland Garros. Er wird fortgesetzt mit starker Intensität fallen. Dieses Wetter wird bis zum Nachmittag anhalten. Mitte des Nachmittags wird sich eine furchtsame Sonne blicken lassen, aber nicht zu sehr, denn die Klarheit wird kurz sein und unterbrochen von mächtigen Regenschauern.“ Und der Teufel soll mich holen, wenn nicht alles ganz genauso eingetroffen wäre, wie die „Nationale Meteorologie“ versprochen hatte.
Vorherrschend war der Regen bei sämtlichen Viertelfinalspielen, und sein prominentestes Opfer am Mittwoch hieß Ronald Agenor. Der in Marokko geborene Hard Rock-Liebhaber aus Haiti, wohnhaft in Bordeaux, hatte gegen Michael Chang anzutreten, den in Hebeken/New Jersey geborenen Chinesen aus Kalifornien. Dem steckte sein verkrampftes Match gegen Ivan Lendl zwei Tage zuvor noch mächtig in den Muskeln, wie unschwer zu erkennen war. Nach starkem Beginn ließ er Agenor immer stärker ins Spiel kommen, gewann zwar den ersten Satz, gab den zweiten aber ab und lag im dritten deutlich zurück. In diesem Moment nahte die Rettung. Und zwar von oben.
„Der Herr wollte, daß ich gewinne“, hatte der 17jährige Chang nach dem Sieg über Lendl gesagt, „also gewann ich.“ Und der Herr wollte auch diesmal, daß Chang gewänne. Mitten in Agenors Höhenflug sandte der Allmächtige den von den Meteorologen prophezeiten Regen. Chang spielte nach der dadurch fälligen Zwangspause zunächst nicht besser, der Haitianer dafür aber taktisch und faktisch plötzlich hundsmiserabel. Unverhofft gewann Chang den dritten Satz und im Tie-Break schließlich auch den vierten, was Agenor dermaßen erzürnte, daß er sich nach einem wichtigen vergebenen Punkt sein Racket mehrfach wuchtig an den Kopf schlug. „Ich habe nur eine Bespannung von 28 Kilo“, verriet er hinterher, „deswegen ist sowas nicht so gewalttätig.“
Chang seinerseits bekommt es heute im Halbfinale mit Andrei Chesnokov zu tun, und der eine Tag Pause sollte eigentlich ausgereicht haben, sich zu regenerieren und den „Herrn“ um erneute Protektion anzuflehen.
Chesnokov, der bärenstarke Sowjetmensch, hatte im Viertelfinale den Titelverteidiger Mats Wilander ausgeschaltet, was nicht unbedingt verwundern mußte. Wilander, der früher problemlos Ballwechsel von geradezu menschenfeindlicher Länge durchgestanden hatte, sagte schon zu Turnierbeginn, daß ihm für solche Kapriolen mittlerweile die Geduld fehle. Die hat Chesnokov im Überfluß. Unbeirrt ließ er alle Bälle zurückprallen, bis es Wilander zuviel wurde und der einen Fehler machte. Nach dem Verlust der ersten beiden Sätze mit 4:6, 0:6 half dem Schweden auch ein kurzes Aufbäumen im dritten Durchgang nichts. Nach drei vergebenen Satzbällen beim Stande von 5:3 verlor er auch diesen: 5:7. Danach dann wieder die obligatorische Frage an Chesnokov, ob er denn etwas von dem verdienten Preisgeld behalten dürfe oder ob ihm der sowjetische Verband wieder alles abknöpfe. Das sei geheim, sagt der 23jährige, aber es sei für ihn jetzt leichter, an Geld heranzukommen. „Nicht die ganzen 73.000 Dollar, etwas weniger“, grinste Chesnokov verschmitzt, „vielleicht 72.000.“ Eine Finalteilnahme ist dabei noch nicht eingerechnet. Nicht nur Wilander hält es jedoch durchaus für möglich, daß Chesnokov in Paris seinem berühmten Satz Nachdruck verleihen könnte: „Es ist leichter, ein Grand Slam-Turnier zu gewinnen, als mit den Leuten in meinem Verband zu reden.“
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