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■ Die deutsche Nationalität ist ein Dilemma, aus dem es kein Entrinnen gibt. Es wird sich erst auflösen, wenn die Nation in Europa aufgehtParadoxe Wiedervereinigung

Seit der Wiedervereinigung steht für viele fest, daß Deutschland seine nationale Souveränität wiedererlangt hat. Aber was ist da wiedererstanden, und inwiefern ist dieses Wieder für die Zukunft von Bedeutung? In seinem Werk über den „Aufstieg und Fall der Zivilisation“ stellt der britische Historiker Arnold Toynbee die These auf, jede Gesellschaft werde bis zu ihrem Ende von den Umständen ihrer Anfänge bestimmt. Damit stellt sich die Frage, seit wann es denn eine deutsche Nation gibt.

Die deutschen Grenzen haben drei Phasen durchlaufen: 1871 entstand im Rahmen von Bismarcks sogenannter kleindeutscher Lösung zum ersten Mal ein souveräner Staat der Deutschen. 1919 wurden die deutschen Grenzen in Versailles verändert. Zuletzt wurden die deutschen Außengrenzen nach 1945 verändert. Worauf bezieht sich aber das Wieder der Vereinigung? Auf die deutschen Grenzen vor 1945? Das ist kaum möglich. Die Schlußakte von Helsinki legt die Unverletzlichkeit der seit 1945 bestehenden Grenzen fest. Damit ergibt sich eine paradoxe Situation, denn die deutsche Wiedervereinigung kann sich nur auf einen bereits geteilten Staat in den Grenzen von 1945 beziehen.

Die Frage, was 1989 wiedervereinigt wurde, ist daher nicht mit der klassischen Definition nationaler Souveränität zu beantworten. Die Rede von den zwei Staaten und der einen Nation, die während der Teilung in Westdeutschland allgemein akzeptiert war, weist darauf hin, daß die deutsche Nation nur unabhängig vom Staatsbegriff definiert werden kann. Wenn aber die Deutschen über 40 Jahre lang eine getrennte Nation waren, seit wann sind sie dann überhaupt eine Nation? Der entscheidende Moment, die Geburt der Deutschen als Nation, war das Ende des Zweiten Weltkrieges. Damals entstand eine Schuldgemeinschaft, die auch durch die innerdeutsche Grenze nicht mehr getrennt werden konnte.

Durch die Judenvernichtung wurde, in perverser Erfüllung nationalsozialistischer Absichten, eine Nation gegründet, und zwar im Augenblick der militärischen, vor allem aber der moralischen Niederlage 1945. Seitdem lebten sowohl die bundesdeutsche als auch die Gesellschaft der DDR im Ereignishorizont der Gaskammern. Auschwitz ist, überspitzt formuliert, der Beginn der deutschen Gesellschaft nationaler Kultur. Doch damit ist diese nationale Kultur ein Negativum, und alle Versuche, eine positive nationale Rhetorik zu entwickeln, müssen immer wieder daran scheitern, daß Nation und Schuld auf Gedeih und Verderb miteinander zusammenhängen.

Es genügt nicht, Deutschland per Gesetz multikulturell und multiethnisch zu machen, etwa indem das Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913, das Jus sanguinis (Gesetz des Blutes) durch das Jus soli (Gesetz des Bodens) ergänzt wird. Das ist selbstverständlich vonnöten, um den hier Geborenen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Doch die Grundlage dieser Multiethnizität wäre stets ein Antirassismus, der seine Kraft aus der Schuld von Auschwitz bezieht.

Es verwundert nicht, daß Rassismus und Antirassismus seit der Wiedervereinigung so drastisch zugenommen haben: Der moralische Knebel von West- und Osteinbindung ist mit dem Ende des Kalten Krieges und der deutschen Einheit weggefallen. Die Politiker haben sofort versucht, Deutschland als Nation zu „normalisieren“, angefangen beim damaligen Außenminister Genscher, der sich sogleich wünschte, der Akzent werde nun von „Bundesrepublik“ auf „Deutschland“ verschoben werden, bis zu Wolfang Schäuble, der wenige Jahre später mehr Nationalgefühle von den Deutschen forderte.

Eine Normalisierung der deutschen Nation fände nur statt, wenn der Schuldkomplex „Auschwitz“ verschwände. Das aber wird nicht geschehen, denn Auschwitz ist nicht nur innen- wie außenpolitisch Mahnung, Waffe und Kontrollhebel. Auschwitz ist wesentlicher Bestandteil der deutschen Identität. Ohne Auschwitz gibt es keine deutsche Nation. Aber Auschwitz liegt in Polen. Es gibt kein besseres Symbol für den Umstand, daß die Judenvernichtung eine Schuld vor den „anderen“ darstellt. Daran würde auch ein nationales Holocaust-Museum nichts ändern. Antirassismus und Rassismus sind beide an diese Schuld gekettet. Sie ist so immens, daß sie verdrängt werden muß, sei es durch einen Jetzt-erst-recht-Rassismus und die Leugnung der Geschichte oder eben durch Antirassismus und die ständige Präsenz der Geschichte. Die Grenzen zwischen beiden sind fließend, denn in beiden Fällen geht es vor allem um die Wahrung der eigenen Identität. Die deutsche Nationalität, das kann man daraus schließen, ist ein Dilemma, aus dem es kein Entkommen gibt.

Die paradoxe Wiedervereinigung in den Grenzen von 1945 paßt sehr gut zu diesem Dilemma. Nirgends ist hier Stabilität in Sicht, und es ist allzudeutlich, daß unsere Politiker nicht in der Lage sind, den Radikalen unter uns Einhalt zu gebieten. Zu sehr sind sie, und mit ihnen die Bevölkerung, Betroffene. Wieder einmal braucht Deutschland die „anderen“, um seine eigenen Probleme zu lösen. Diese anderen sind die Länder Europas, die seit den 60er Jahren die europäische Einigung vorantreiben. Es ist kein Wunder, daß Deutschland der aktivste Motor dieser Einigung ist. Hier winken nicht nur wirtschaftliche und politische Vorteile, sondern hier bietet sich eine einmalige Chance, die Last der deutschen Nationalität abzuwerfen.

Im Rahmen der entstehenden superstaatlichen Strukturen in Europa können Multiethnizität und Multikulturalität gesichert werden, indem die deutsche Nationalstaatlichkeit aufgegeben wird. Dazu bedarf es der Erkenntnis, daß sich das deutsche Dilemma und mit ihm die Gefahr, die von Deutschland ausgehen kann, erst auflösen, wenn sich deutsche Nation und deutsche Nationalstaatlichkeit auflösen. Christoph Nick hat kürzlich an dieser Stelle (taz vom 10.7.) die bayerische Selbständigkeit als Folge der Europäischen Union für möglich erklärt. Das aber wäre nicht genug. Sämtliche Bundesländer müßten das Recht einfordern, eigenständige Gesellschaften zu entwickeln.

Die Auflösung des deutschen Nationalstaates erwiese sich in vier Punkten als vorteilhaft: Erstens könnte das vielbeschworene Subsidiaritätsprinzip wirkungsvoll umgesetzt werden, da die Regionen durch den Wegfall der Bundesorgane gestärkt würden. Zweitens würde der zwanghafte deutsch- französische Bilateralismus durch einen echten europäischen Multilateralismus ersetzt. Drittens verlören die rechtsradikalen Gruppierungen ihre nationale Basis, so daß einerseits die Integration von Ausländern auf anderen Grundlagen stünde und andererseits die Eingliederung Polens und Tschechiens problemloser verliefe. Viertens wäre die Entwicklung vom Bundesstaat zum losen, europäischen Staatenbund das Ende unserer schuldhaften Nationalität.

Die ohnehin schon vielfältigen deutschen Gesellschaften könnten im Rahmen neuer Staaten ihre Identitäten frei entwickeln. Auschwitz wäre nicht mehr kollektiver Schuldkomplex, sondern kollektive Geschichte, aus der gelernt worden wäre. Wir könnten stolz auf eine deutsche Kultur sein, die diesen Schritt ermöglicht hätte, und müßten nicht zugleich auf eine deutsche Nation stolz sein, der wir nur mit übertriebenen Affekten begegnen können.

Ist es aber realistisch, die Auflösung Deutschlands als Nationalstaat zu fordern, wo es doch gerade erst seine verlorene Souveränität wiedererlangt hat? Vielleicht muß hier gar nicht viel getan werden. Die zentrifugalen Kräfte in diesem Teil Mitteleuropas waren stets so stark, daß es bisher niemandem gelungen ist, das Gebiet auf Dauer zusammenzuhalten. Es ist durchaus möglich, daß die Macht in Brüssel und der Selbstbehauptungswille der Bundesländer die nationalstaatlichen Organe allmählich in den Hintergrund treten lassen, wie Christoph Nick es voraussieht.

Andreas Zumach hat jedoch zweifellos recht, wenn er die „erheblichen Renaissanceschübe“ nationalstaatlicher Politik auch in Europa hervorhebt und zu dem Schluß kommt, die Auseinandersetzung zwischen den Vertretern nationaler Souveränität und denjenigen, die den Nationalstaat für überholt halten, sei keineswegs entschieden. Steven Uhly

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