: Die chaplineske Art des Fliegens
■ Der 16jährige Finne Toni Nieminen gewann das dritte Springen der Vierschanzentournee in Innsbruck vor fünf enttäuschten Österreichern/ Deutsche Springer liebäugeln mit dem V-Stil
Berlin (taz/dpa) — Manchmal geht es schon sehr merkwürdig zu im Spitzensport. Da zerbrechen sich Wissenschaftler aller Länder die Köpfe über das windschnittigste Design diverser Sportgeräte oder über die stromlinienförmigste Körperhaltung der Athleten, forschen in Windkanälen und ähnlichen Einrichtungen mit modernsten Methoden nach der optimalen Art der Sportausübung, und dann kommt plötzlich einer wie der norwegische Skispringer Jan Bokloev daher und wirft alles über den Haufen.
Die Sprungski parallel und dicht zusammen, die Hände an den Körper gepreßt, den Oberkörper weit nach vorn über die Ski geneigt — diese Haltung galt jahrelang als das Nonplusultra des Skispringens. Als Bokloev plötzlich eher zufällig die Ski in chaplinesker Weise auseinanderspreizte und sich wie eine x-beinige Ente zu Tale stürzte, wurde allenthalben noch herzlich gelacht, und Bokloevs Punktabzüge wegen mangelhafter Haltung wurden nur noch von Eddie The Eagle übertroffen. Doch nach und nach stellte sich — zur größten Verwunderung aller Experten — heraus, daß die neue Art des Fliegens schlicht und einfach größere Weiten ermöglichte. In dieser Saison trugen die Funktionäre dieser Entwicklung Rechnung, reduzierten die Punktabzüge, und seither sind die Tage der elegant und majestätisch dahinschwebenden Klassiker gezählt. Wie im Hochsprung muß nun auch bei den Herren der Lüfte die Ästhetik der Effizienz weichen.
Wunder kann allerdings selbst der V-Stil nicht vollbringen. So kann man getrost davon ausgehen, daß der 16jährige Finne Toni Nieminen mit seinem phänomenalen Fluggefühl auch im klassischen Stil ganz vorn zu finden wäre, und der erste Hüpfer des Dieter Thoma beim dritten Springen der Vierschanzentournee in Innsbruck über 104,5 Meter zeigte, daß die Klassiker durchaus vorne mitmischen können, auch wenn der 22jährige Hinterzartener nach der Landung wegrutschte und stürzte. Insgesamt jedoch ermöglicht das V offensichtlich eine größere Beständigkeit, so daß sich Athleten, die bislang stets in der zweiten Garnitur herumsprangen, auf einmal in den Weltcuprängen wiederfinden. Der Amerikaner Jim Holland etwa oder etliche Österreicher, die die Umstellung dank ihres innovationsfreudigen Trainers Toni Innauer, selbst einer der graziösesten Klassiker aller Zeiten, am erfolgreichsten bewältigt haben.
Wer ganz vorn landen will, kommt am neuen Stil ohnehin nicht vorbei. Das erkannte auch der Tiroler Andreas Felder, der den Weltcup- Auftakt im kanadischen Thunder Bay noch klassisch bestritten hatte, dort aber die Zeichen der Zeit erkannte, sich blitzartig den V-Stil antrainierte und nun zum Hauptrivalen des neuen Skisprunggenius Nieminen avancierte. Felders Weg wollen nach dem Debakel von Innsbruck, wo — in Abwesenheit des lange verletzten Jens Weißflog — der 19. Rang Andreas Scherers die beste Plazierung war, auch die deutschen Springer Dieter Thoma und Heiko Hunger gehen. Sie begeben sich in den Untergrund, um für die Olympischen Spiele das große V zu üben: „Irgendwo, wo uns niemand beobachtet und wir viele Sprünge üben können“, so Bundestrainer Rudi Tusch, soll die klandestine Aktion über die Schanze gehen. „Aus der jetzigen Situation heraus bist du einfach gezwungen, mit bisherigen Klassikern die Umstellung zu probieren“, meint Tusch, ist allerdings angesichts der kurzen Zeit, die bis Olympia im Februar bleibt, nicht allzu optimistisch. „Niemand kann sagen, wie schnell der Dieter das erlernt.“
Am Bergisel in Innsbruck stand Thoma wie die Vertreter fast aller anderen Nationen eindeutig im Schatten der Österreicher, die getragen vom Jubel der 25.000 Zuschauer, der Konkurrenz davonflogen. Mit Andreas Goldberger, Werner Rathmayer und Ernst Vettori lagen am Ende des zweiten Durchgangs bereits drei Österreicher vorn, als oben nur noch die drei Erstplazierten des ersten Durchgangs warteten. Doch dann kam Toni Nieminen. Nahezu bewegungslos wie eine schwebende Statue lag er in der Luft — nur die linke Hand vollführte sparsame Korrekturbewegungen — und segelte auf grandiose 111,5 Meter. Damit blieb er, trotz verkürzten Anlaufs, nur einen halben Meter unter dem Schanzenrekord. „Phantastisch, einfach phantastisch“, staunte Rudi Tusch, und Nieminen selbst sagte knapp: „Ich wollte gewinnen und wußte, daß ich mit einem Satz an die 110 Meter die Österreicher verunsichern würde.“
Das gelang ihm nachhaltig. Martin Höllwarth und der bis dahin vorne liegende Andreas Felder waren geschockt und kamen nicht annähernd an die Weite des Finnen heran. Die Innsbrucker müssen weiter auf den Sieg eines Tirolers an ihrem Hausberg warten. Nieminen indes führt nun souverän in Weltcup und Vierschanzentournee und wird wohl seine Pläne für den Olympiawinter noch einmal überdenken müssen. Noch vor wenigen Wochen hatte er nämlich auf die Frage nach seinem größten Saisonziel, bescheiden den Gewinn der Juniorenweltmeisterschaft genannt. Matti Lieske
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