■ Die bedarfsorientierte Grundsicherung ist und bleibt ein zentrales Reformprojekt der Bündnisgrünen: Das soziale Netz armutsfest machen
In den vergangenen Jahren hat Armut in der Bundesrepublik zugenommen. Einige Gruppen sind überproportional häufig von Armut betroffen: Langzeitarbeitslose, Alleinerziehende, AusländerInnen, Alte. Diese Entwicklung machte das Bundessozialhilfegesetz, ursprünglich für eine besondere, unerwartete Notlage konzipiert, zu einem Regelsystem für derzeit 2,4 Millionen Menschen. Gleichzeitig hat das System aber sowohl das Image als auch die Praxis der alten Almosenbehörde beibehalten. Alle Beteiligten werden daran unglücklich: die Betroffenen, weil sie schlecht behandelt und nicht unterstützt werden, die Verwaltung, weil sie heillos überfordert wird, und die Kommunen, weil ihnen das Geld ausgeht.
Daraus ergibt sich der Reformbedarf: Die Überbeanspruchung der Sozialhilfe entsteht aus systematischen Mängeln in den vorgelagerten Sicherungssystemen. Die Aufgabe besteht also darin, diese Systeme „armutsfest“ zu machen. Dies gilt insbesondere für Renten- und Arbeitslosenversicherung sowie die Familienleistungen. Das Prinzip der Grundsicherungsreform lautet, daß in allen Leistungssystemen – gerade auch in den auf Beitragsleistungen beruhenden – ein Mindestsockel eingezogen werden soll. Auf dieses Mindeste sollen die Leistungen aufgestockt werden, falls die Versicherungszahlungen zu niedrig sind. Dazu wird eine – allerdings gegenüber der heutigen Praxis deutlich entschärfte – Bedarfsprüfung notwendig sein. Parallel zur „Sockelung“ der vorgelagerten Sicherungssysteme muß auch das Sozialhilfesystem für die besonderen Lebenssituationen reformiert werden. Die wichtigsten Stichworte für diese Reformierung sind Entbürokratisierung, Abbau der Zwangselemente und eine würdige Behandlung der Hilfesuchenden.
Ausdrückliches Ziel einer derartigen Reform ist die Armutsbekämpfung und Armutsvermeidung. Damit bricht sie mit langjährigen Vorstellungen der Grünen. Frühere Modelle eines garantierten Mindesteinkommens hatten erst in zweiter Linie ein explizit sozialpolitisches Ziel, vorrangig sollte damit die Gesellschaft und vor allem deren Verhältnis zu Erwerbs- und anderer Arbeit verändert werden. Die kritische Auseinandersetzung mit dem Modell führte zur Erkenntnis, daß dies zwar eine politisch fruchtbare Utopie, aber kein realisierbares Vorhaben ist. Diese Neuorientierung ist nur zum Teil der wachsenden Klarheit über die mit dem Mindesteinkommen aufgeworfenen Gerechtigkeits- und Umsetzungsprobleme geschuldet. Entscheidend für die Neuorientierung war die ökonomische Entwicklung: Mit zunehmender Erwerbslosigkeit und Verarmung wurde es immer wichtiger, eine zielgenaue Strategie gegen die damit verbundene Ausgrenzung zu entwickeln. So verdichtete sich die sozialpolitische Debatte – außer natürlich bei den erklärten Sozialstaatsfeinden – in der Bundesrepublik zunehmend hin zum Modell der bedarfsorientierten Grundsicherung.
Auf den ersten Blick scheint es, als mache die Grundsicherungspolitik damit nur den ersten Schritt von der Utopie zur bescheidenen Reform. Genau besehen provoziert das Modell die herrschende Sozialpolitik aber erheblich. Zum einen ist es der bürgerrechtliche Ansatz, von dem das bündnisgrüne Konzept ausgeht. Menschen in Armut haben einen Anspruch auf Würde und Autonomie, der sich insbesondere im Umgang der Institutionen mit den Menschen ausdrücken muß. Daher sollen Prüfungen und Zwang so weit vermieden werden, wie es irgend mit den Gerechtigkeitsvorstellungen der Gesellschaft vereinbar ist. Es ist für das Recht eines jeden Menschen zu streiten, Unterstützung von der Gesellschaft zu erhalten, ohne sich dafür demütigen lassen zu müssen. Hier liegt ein entscheidender Bruch mit den althergebrachten Mustern der Armutspolitik.
Die andere Provokation geht vom Gedanken der Mindestsicherung in den Sozialversicherungen aus. Das kratzt am Selbstbild der Gesellschaft, die soziale Leistungen gemäß der vorigen Position im Erwerbsleben für legitimer hält als eine voraussetzungsunabhängige Unterstützung. Vor dem Hintergrund der Erosion der Erwerbsgesellschaft ist die Auseinandersetzung um die solidarischen Elemente unseres Sozialsystems unaufschiebbar. Dazu kann die Forderung nach Grundsicherung einen produktiven Beitrag leisten.
Somit führt der „pragmatische Weg“ doch wieder zur radikalen Anfrage an die Gesellschaft zurück, welche Konsequenzen sie aus der Krise der Erwerbsgesellschaft zieht. Längst steht eine kritische Überprüfung unserer Leistungsmaßstäbe auf der Tagesordnung – das Verhältnis von Erwerbsarbeit zur Reproduktionsarbeit, in Zeit und Geld gemessen, ist lange schon fragwürdig. Die Forderung nach Grundsicherung kann diese politischen Orientierungen verändern.
Die zivile, bürgerrechtliche Armutspolitik sowie solidarische Modernisierung der Maßstäbe für die Transfergewährung markieren die Unterscheidungskriterien des Modells zu anderen Vorschlägen. Das Bürgergeld-Modell der FDP scheint den bürgerrechtlichen Ansatz besonders konsequent zu entwickeln. In seiner idealtypischen Variante sollen alle bisherigen Transferleistungen abgeschafft und in einen einheitlichen Zahlbetrag an alle überführt werden. Voraussetzungslos an alle gewährt, braucht es keine entwürdigende Prüfung. Aber: Das Bürgergeld soll aus den bestehenden Aufwendungen für Sozialleistungen gezahlt werden. Also sind die zur Verfügung stehenden Mittel nicht unbegrenzt. Der Topf wird aber an einen größeren Bezieherkreis ausgeschüttet als heute, wo nur die geprüft Bedürftigen etwas bekommen. Die unerquickliche Folge ist, daß am Ende der Arme zuwenig zum Leben hat, der Wohlhabende aber noch ein nettes Zubrot bekommt. Damit verletzt das Bürgergeld-Modell die Forderung nach Solidarität mit den Schwachen.
Die Seehofersche Sozialhilfereform verletzt beide politischen Kriterien. Indem sie die Zwangselemente des bestehenden Sozialhilferechts verschärft anstatt abbaut, geht sie noch tiefer in die alte Armutspolitik hinein. Zudem geht die Reform vom resignativen Ansatz aus, daß Sozialhilfebezug nicht vermeidbar sei. Damit stellt sie sich nicht der Herausforderung, die im strukturellen Versagen der vorgelagerten Systeme liegt. Seehofer also wagt genau das nicht, was im bündnisgrünen Modell der zentrale Punkt ist: die Versicherungsäquivalenz in Frage zu stellen und zuzugeben, daß die soziale Sicherung nicht sinnvoll durch ausschließliche Anbindung an die individuelle Erwerbsposition zu gewährleisten ist. Andrea Fischer
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen