Die aus'm Osten: Eva-Maria Hagen

■ Lasziv wie Jeanne d Arc - fromm wie Moll Flanders

Es ist Sonntag, ein Nachmittag, die Sonne strahlt, und alle Vögel sind schon da und singen im Garten der Singakademie (ehemals), des Maxim Gorki Theaters (gegenwärtig). Ich warte auf Eva-Maria Hagen.

Eine Probe ist angesetzt für ihren ersten Solo-Abend in Berlin. In der Stadt, die sie vor einem Dutzend Jahren verlassen hat, weil Biermann, Wolf, nicht wieder Einlaß fand nach einem Gastspiel „drüben“. Die Geschichte ist Geschichte, mittlerweile. - „Ich kann ohne Wolf nicht leben. Der ist mein Vater, mein Sohn, mein engster Vertrauter, meine Familie. Wenn's mir nicht gut geht, nehmen wir uns an die Hand und gehen nach Italien. Italien ist sein Garten. In Hamburg. Wir setzen uns auf eine Bank, Wolf sagt: Ist es nicht schön, hier in Italien? - Und gleich geht's mir besser. So ist das“, sagt sie mir später, und wie sie das sagt, ist man von ihrer lebenswichtigen Anbindung an diesen Biermann überzeugt.

Tja, „Das mit den Männern und den Frau'n“ das ist ein unergründlich Ding. Die Hagen weiß ein Lied davon zu singen. Sie tut das an diesem Abend. Doch jetzt ist Probe angesetzt. Sie kommt, wir umarmen uns, dann steht sie auf der Bühne. In flachen Schuhen, schwarzem Knitteranzug, grünem Tuch und langen silbernen Ohrgehängen, das Haar aufgesteckt. Es geht um Belüftung, Lichtwünsche, Mikrophonproben. Sie ist freundlich und geduldig im Umgang mit den Technikern. Erfahrung steckt darin, gesammelt auf vielen Tourneen durch die Sowjetunion, die Schweiz und Österreich nebst beiden deutschen Landen.

Nach zögerlichem Auftakt klappt es mit dem Spot, der ihren liebenswerten Figurationen folgen soll, dem Licht für die Augen und überhaupt: Damit man „alles“ sieht, sagt sie, wünscht sie sich denn - „Ich hab‘ im Maul noch alle meine Zähne. Mein Busen hängt noch lang nicht auf'm Bauch. Ick baumel ooch noch jerne mit de Beene. Nu bin ich alt und sterben werd‘ ich auch.“ Sie jauchzt und schluchzt, hat Kraft, Zartheit und Zähigkeit, wenn sie dies Lied singt, das Biermann für sie schrieb. Probe.

Jetzt kramt sie mitten auf der Bühne Kleider aus der Tasche, monologisiert: Ich möchte heut‘ was Ernsthaftes anziehen. Weist mir aus der Helligkeit in den dunklen Zuschauerraum spanisch-zigeunerische Zipfelröcke in flammendem Rot und strengem Schwarz. Läßt plötzlich alles sinken und zweifelt: Bei dem Wetter, ob da überhaupt Leute kommen?

Das Haus ist ausverkauft, wird ihr vermittelt. Schön, sagt sie und legt alle Klamotten auf den Flügel. Dort leuchten und glitzern sie ein wenig von der „Show“, die angehen soll diesen Abend. Sie nimmt die Gitarre, setzt sie ab, sagt her zu mir ins Parkett: Das ist ein bittersüßes Gefühl, hier zu stehen. Verstehst du das? Ich hab‘ mich menschlich verhalten. Auf mich ist Verlaß. Das ist so. Deswegen mußte ich gehen. Meine Grenzgängerträume - ich hab‘ sie aufgeschrieben. Wie man sich fühlt über vierzig und dann neu beginnen. Ich hoffe, das ist alles drin, in meinen Liedern, den tollen von Wolf, der alles auf den Punkt bringt mit seiner wunderbaren Sprache.

„Und wenn ich weinte, weinte ich zu Ende, bis mir nicht eine Träne übrig blieb“, singt sie, zupft dazu ein wenig die Saiten ihres Instruments. In der Garderobe, im gnadenlosen Licht der Sonne, sieht man, was sie ohnehin bekennt: Ihr Alter. Es zeigt ein schönes Gesicht. Dann stellt sie mir wie später ihrem Publikum - „meinen wunderbaren jungen Pianisten“ vor. Sie leben und arbeiten miteinander seit vier Jahren.

Ich frage nach Nina, der weltweit Berühmten, der Beziehung zwischen Mutter und Tochter. „Es geht mir, wie es allen Müttern geht: Ich vermisse sie mehr als sie mich. Wenn sie anruft, ist sie voller Liebe. Aber das ist selten. Sie hat ihr intensives Leben, eine neue Liebe, und sie erwartet wieder ein Kind.“ Sie strahlt und kramt ein Foto heraus, das sie mit Ninas Tochter zeigt. Großmutter und Enkelin. Ruhepause für Eva-Maria. Siggi, ihr Freund, sagt mir, daß sie stets aufgeregt ist, aber heute, an diesem Ort, einem Stück Heimat, besonders.

Die Vorstellung. Der Saal ist voll. Viele junge Leute. Sie wollen Biermann-Lieder hören, sie wollen die Mutter von NINA hören und sehen. Sie kommt. Immer noch aufgeregt, aber ein profi. Frech lästert sie los, röhrt, flüstert, schmeichelt und trällert: „Ihr sitzt im Dunkeln, ich steh‘ im Licht, ich krieg 'ne Gage, ihr kriegt sie nicht.“

Es knistert im Saal, der Funke ist aufgeflogen, hat das Feuer entzündet. Jetzt wollen sie EVA-MARIA Hagen. Die ist perfekt. Technisch, gestalterisch. Voller Nuancen. Sie hat ihr Gelebtes, ihr Talent und ihr Können, Biermanns und andere Texte, die poetischen Wahrheiten fremder Kulturen und die Musiken dazu in sich versammelt. Nun singt, nein, trillert, trällert, kullert und kollert sie, dreist und sinnlich über alle Lagen (Höhen und Tiefen), übergangslos vom Sprechen zum Heulen, Lachen und Schreien - singt sie, ja, aus sich heraus. Anders gesagt: Da kommt nichts vor, was nicht vorkommt. Oder, wie der Dichter sagt: „Der Mensch kann nur austeilen, was er hat.“

Eva-Maria hat 'ne Menge auszuteilen, und die Menschen im Saal nehmen das begeistert an, klatschen, juchzen, wollen mehr, mehr, mehr von „Liebe, Liebe, Liebe, Haß.“ Wie sie da steht in ihrem Kleid aus höllisch roter Seide, weder von Drachen, Teufeln, Spießern, Grenzern, Parasiten totzukriegen - das macht Mut und Hoffnung. Und: Daß ein altes Weib nicht unbedingt ein kaltes (totes) Weib sein muß, sondern

„Ich will, daß junge Weiber und auch alte

Wie Blumen blühen dürfen, rund ums Jahr.“

Dem ist nichts hinzuzufügen.

Anne Dessau