Die Wiederentdeckung der Maya

■ Während westliche Gelehrte die Maya aus dem Blickwinkel ihrer Gegenwart verstehen wollen, leben die Maya ihre unerforschte Zivilisation

Anthony Shelton DIE WIEDERENTDECKUNG

DER MAYA

Während westliche Gelehrte die Maya aus dem Blickwinkel ihrer Gegenwart verstehen wollen, leben die Maya ihre unerforschte Zivilisation

Flache Meere und Wellen tropischen Waldes umgeben die zerbrochenen Ruinen einstmals glänzender Maya-Städte, verloren in Yukatan und Chiapas in Mexiko, oder in Belize und Guatemala. Seit langem verlassen, bewahren diese halbbegrabenen Pyramiden und Paläste - manche mit Stützbögen, manche mit riesigen Stuckmasken der Sonnen- und Regengötter auf den Mauern, manche von himmelwärts strebenden Türmen gekrönt - noch immer die Würde und die Gefühle, die ihre letzten Einwohner hinterließen. Ihr Zauber hält noch immer große Gruppen der Maya gefangen, wie die Lakandonen in Chiapas, die die Wildheit der spanischen Eroberung überlebten und in Tempelschreinen inmitten der Trümmer von Yaxchilan oder Piedras Negras an der Grenze zwischen Mexiko und Guatemala auch weiterhin ihren verlorenen Göttern opfern. Spuren der mathematischen und kalendrischen Errungenschaften ihrer Maya-Vorfahren sind in Indio-Dörfern Guatemalas noch immer zu finden und der Mais bildet auch heute noch die Grundlage einer einzigartigen Küche, die sich seit 2000 Jahren nicht verändert hat.

In Merida, der Hauptstadt von Yucatan, steht das Haus des spanischen Eroberers Francisco Montejo; die Fassade ist mit einem Steinrelief geschmückt, auf dem er über einem zu Boden getretenen Indio triumphiert. Aber 1527, als dieser Eindringling aus dem Westen mit seiner Armee hier erschien, waren die Maya bereits alt und hatten sich schon mit anderen Invasionen aus Zentralmexiko abfinden müssen. Viele ihrer schönsten Städte waren zerfallen und verlassen, wie zum Beispiel Palenque, Copan oder Tikal; sie wurden erst im 18. und 19.Jahrhundert von Forschern wie JohnCaddy, Stephens und Catherwood, Alfred Maudslay, Desire Charnay und Teobert Maler wiederentdeckt. Deren frühe Veröffentlichungen, Zeichnungen, Aquarelle und Fotografien enthüllten dem europäischen und amerikanischen Publikum zum ersten Mal Existenz und Niveau der Maya-Zivilisation. In diesem kurzen Zeitraum schufen Außenseiter die verschiedensten Interpretationen dieser Meisterarchitekten und sublimen Künstler. Zunächst konnten die Europäer nicht glauben, daß Amerika eine so hochentwickelte Zivilisation unabhängig von den alten Reichen Asiens und des Nahen Ostens habe hervorbringen können; sie behaupteten, die Maya müßten Nachkommen eines der verlorenen Stämme Israels sein. Es entwickelte sich eine erbitterte Kontroverse darüber, von wo und wann sie nach Amerika gekommen seien. Es gab üppige Beschreibungen ihrer Abenteuer und Errungenschaften, bevor die ernsthafte archäologische Arbeit einsetzte und den ersten Hieroglyphen ihre Geheimnisse entrissen wurden. In einer späteren Phase, zwischen 1920 und 1960, interpretierte der englische Ethnohistoriker Sir Eric Thompson die Maya als Priester-Könige, die in Wohlstand und Frieden lebten und die Mittel ihres Reiches für astronomische Beobachtungen und komplizierte mathematische Berechnungen einsetzten, auf deren Grundlage sich eine der komplexesten Philosophien von Zeit und Geschichte erhob, die die Welt je gesehen hat.

Ihre Städte wurden als rituelle Zentren gesehen, die der Elite vorbehalten waren, während die übrige Bevölkerung sich nur zu wichtigen Festen einfand. Diese hingelagerten weißen Städte, die heute von der Feuchtigkeit grau und von Flechten grün gefärbt sind, galten als ruhige Refugien gelehrter Männer, die ihr Leben der Entdeckung erhabener Wahrheiten und bedeutungsvoller Ereignisfolgen aus der Beobachtung der Natur widmeten. Diese Sichtweise wurde alsbald in Frage gestellt - sie erschien als Reaktion auf die moralische Verkommenheit, psychologische Leere und den ziellosen Intellektualismus Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dessen Zukunft von ständigen Kriegen und sozialen Unruhen verdüstert war.

In den letzten zehn Jahren hat diese idyllische Sichtweise der Maya ein Ende gefunden, seit in der Entzifferung der Hieroglyphen aus der klassischen Periode (600 bis 900 nach Christus) - auf Gedenkskulpturen und manchmal als Dekoration auf Keramik, Jade und Knochen - rasche Fortschritte erzielt wurden. Die Inschriften dürften weit weltlichere Themen behandeln, als Thompson sich jemals vorstellte. Sie beziehen sich auf die Geschichte von Dynastien und berichten von den Eroberungen und Taten einzelner Herrscher von Stadtstaaten. Hinter diesem Individualismus steht jedoch die Heiligkeit des Herrscheramtes, das allein seinem Träger die Autorität verleiht, indem es ihn zum Vermittler zwischen den Göttern und den Menschen erhebt und ihn zur Quelle irdischen Wohlstands bestimmt, den er durch das persönliche Opfer an seine himmlischen Herren bewahrt. Die Maya verwandelten die Religion in eine Form der Politik, und ihre Herrscher wurden zu den Diplomaten, die nicht nur zwischen den Menschen und den Göttern, sondern auch zwischen benachbarten Nationen vermittelten. Neuere Fortschritte in der Hieroglyphen -Entzifferung haben die Namen und Regierungsdaten einer wachsenden Zahl von Maya-Herrschern enthüllt, deren Portraits auf Steinmonumenten zu finden sind und deren Grabmäler in oder unter riesigen Tempeln entdeckt wurden.

Für einige Stätten wie zum Beispiel Tikal wurde die gesamte Genealogie entziffert. Es ist jedoch interessant festzustellen, daß ein großer Teil dieser Sichtweise von amerikanischen Gelehrten zusammengestellt wurde, und daß die Betonung der Herrscher-Individualität bei den Maya mit der Wiederbelebung dieses Begriffs während der Reagan-Jahre zusammenfällt. Noch läßt sich nicht sagen, ob es sich hier lediglich um eine neue westliche Sichtweise oder um das Wesen der Maya-Zivilisation handelt - es steht lediglich fest, daß die Maya selbst kein Problem darin sehen, wer oder was sie sind, trotz innerer Kriege, trotz der toltekischen Invasion aus Zentralmexiko 987, trotz Montejos grausamer und arroganter Eroberung 1527, trotz der Aufteilung ihres Landes durch Mexiko, Guatemala, Belize und Honduras, und trotz 500 Jahren Ausbeutung.

Unbeeinflußt von den Streitigkeiten westlicher Ideengeschichte halten sie an einer gemeinsamen Sicht dessen fest, was ihr Maya-Sein und die Geschichte ihrer Ahnen ausmacht. Für den Westen liegt ihre Vergangenheit in den vereinzelten Ruinen ihrer einstmals grandiosen Städte, aber für sie selbst hatte ihr Priester die Ankunft der Spanier und den Zwang einer neuen Religion schon vor Montejos Erscheinen angekündigt. Heute warten sie darauf, daß sich die Prophezeiungen erfüllen, die ihre Befreiung voraussagen. Im Vorgriff haben die Maya von Yucatan bereits begonnen, ihre Anerkennung als autonome Nation in Mexiko zu fordern, und ihre Nachbarn in Chiapas halfen bereitwillig den vielen tausenden ihrer Landsleute, die in den letzten zehn Jahren politischer Gewalt vor der Tyrannei der guatemaltekischen Armee geflohen sind.

Während westliche Gelehrte - bequem, wenn auch unbewußt damit fortfahren, der Vergangenheit der Maya ihre eigene Gegenwart überzustülpen, bereiten sich die Maya vor, ihre Vergangenheit in der westlichen Gegenwart zu bestätigen; zwei Zivilisationen, die in Temperament, Philosophie und Geschichte heute fast ebenso entgegengesetzt sind wie vor fast fünfhundert Jahren, als sie einander bei jener verhängnisvollen Eroberung zum ersten Mal begegneten.