: Die Welt ist essbar!
■ „Sir Vival“ Rüdiger Nehberg frühstückt bei Radio Bremen und zeigt sich als Eroberer der Sinnenwelt mit Aufklärungsanspruch. Jetzt will der Termitenfreund noch mal „richtig ranklotzen“
„Das Unglück lauert überall – ob man im Flugzeug sitzt, mit beiden Füßen auf der Erde steht, ob man mutterseelenallein durch die Wildnis stromert oder zwischen Tausenden von Müttern und Seelen durch die Großstadt gestromert wird.“
Rüdiger Nehbergs Klassiker „Survival“ ist nicht ohne Sprachwitz verfasst, wirkt im Ganzen aber doch ein wenig zwanghaft. Als Sommergast bei zettBeh in die Schaubühne gestromert, kam der lebendige „Sir Vival“ allerdings ganz anders rüber: entspannt, gut gelaunt und ein pfiffiger Entertainer, der jede Vorlage von Moderator Otmar Willi Weber in ein vom Publikum heftig umjubeltes Sympathietor verwandelte.
Nehberg zeigte sich eben nicht als unterernährter Grenzerfahrungspriester oder verbissener Überlebenssport-Rambo, sondern als Eroberer der Sinnenwelt – einer, der Nouvelle Cuisine ebenso zu schätzen weiß wie aus dem Handtuch geschüttelte Termiten. Die Welt insgesamt lässt sich mit Lustgewinn verzehren, lautete die Botschaft.
Wenn er in seinem Handbuch Survival als „Kunst selbständig zu überleben“ definierte, so wollte Nehberg nun wohl die ersten beiden Begriffe der Formel unterstreichen: Überlebensakrobatik als eine emanzipatorische Kunstform, die danach strebt, aus der vorgegebenen Lebenswelt auszubrechen und zu selbstbestimmter sinnlicher Erfahrung vorzustoßen. Er sei ein „Mensch ohne Haare, Sternzeichen, Kirche und Klipp im Ohr“, verkündete der Aktionskünstler kompromisslos individualistisch.
Mit geübter Selbstironie berichtete er von seinem letzten Abenteuer. Auf einer Schweizer Tanne ritt er der Strömung nach über den Atlantik nach Brasilien – und hatte dabei alle möglichen elektronischen Hilfsmittel dabei: „Im Grunde war ich ein Luxusschiff, der Baumstamm war eigentlich nur eine Attrappe.“ Ziel war es dabei aber freilich, der Natur so nah wie möglich zu kommen.
Begeistert berichtete Nehberg von dem Gefühl der Einheit mit der Schöpfung, das ihn überkam, als sich Seevögel „voller Vertrauen“ auf seinem Arm niederließen. Fast wie der heilige Franziskus scheint er mit den Tieren gesprochen zu haben. Auch ständige Seekrankheit ist Teil des sinnlichen Wunders der Welt. Ein Kreislauf habe sich da gebildet: Fische fangen, essen – um dann die gierigen Meerestiere wieder mit dem Erbrochenen ernähren.
Aber Nehbergs Abenteuer haben natürlich einen der sinnlichen Erfahrung beigeordneten größeren Sinn. Die letzte Atlantikfahrt widmete er dem Ziel, auf die Lage der von Goldsuchern entrechteten und ermordeten brasilianischen Ureinwohner aufmerksam zu machen. Im Besonderen ging es um das Schicksal der Yanonámi oder Yanomami, bei denen sich Nehberg schon merhmals aufhielt und über die er in zwei Büchern berichtete. Zur Lust an der Konfrontation mit den Naturgewalten kommt das Prinzip der neugierigen Selbstauslieferung an „fremde“ Kulturen und Lebensformen. Diese Reise ist an ihrem Ziel, als Indianer dem schwerkranken Konditormeister aus Hamburg versichern, es sei alles halb so wild, schließlich würde man ihn im Falle seines Ablebens verspeisen und ihm so ein Weiterleben ermöglichen.
Nehberg vergaß aber nicht, das „Fremde“ zu relativieren: Das seien natürlich keine „edlen Wilden“, sondern genau solche „Knallköpfe wie in Hamburg oder Bremen auch“. Er erzählt von der Praxis der Indianer, behinderte Neugeborene und den zweiten Zwilling nach der Entbindung zu töten. Nein, da habe er sich nicht eingemischt, er sei ja Gast gewesen.
Aber das Prinzip der Akzeptanz kultureller Andersartigkeit, auch wenn sie grausam ist, hat für Nehberg doch seine Grenzen. Das zeigt sein neues aufklärerisches Projekt. Mit der Aktion „Target“ will er Front gegen die Genitalverstümmelung machen, die vor allem im südlichen Sahara-Raum durchgeführt wird, um Frauen nach den Bedürfnissen des Patriarchats zuzurichten. Auf das Thema brachte ihn nicht zuletzt die Autobiografie des somalischenModels Waris Dirie. Er habe das Buch nicht mehr aus der Hand legen können.
Nehberg, der einen unerschütterlichen Glauben an die Machbarkeit des dringend Gewollten besitzt, hat große Visionen. Er will islamische Würdenträger gegen diese Art des Gewaltverbrechens mobilisieren – mit dem Koran habe der archaische Brauch der Frauenbeschneidung nämlich in Wirklichkeit absolut nichts zu tun.
Islamische Geistliche hätten auch schon Bereitschaft signalisiert, sich an der Kampagne zu beteiligen. Sie biete dem Islam die dringend notwendige Möglichkeit, sich „positiv darzustellen“, meinte Nehberg: „Wenn die Beschneider wissen, dass sie in der Hölle zu Döner verarbeitet werden, sind wir einen Schritt weiter.“
Eine junge Frau aus dem Publikum wollte wissen, wie Nehberg denn nun die Bedingungen der Einmischung definiere, wenn er sich auf der einen Seite bei der Kindstötung der Indianer nobel zurückhalte, auf der anderen aber vorhabe, die Entrüstung der Welt gegen die Mädchenbeschneidung zu mobilisieren. Der wollte das Problem nicht sehen und reagierte mit weiteren drastischen Bildern vom Leiden der misshandelten Frauen.
Er ist Aktionskünstler aus dem Bauch heraus, nicht Theoretiker – außerdem verpürt der Sechsundsechzigjährige das dringende Verlangen, „noch mal so richtig ranzuklotzen“. Zeno Ackermann
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