Die Wahrheit: Der Kratzer im Lack
Im Lieblingscafé Gum herrscht blanke Aufregung: Irgendwas war mit Rudis SUV passiert. Der Lack war ab!
H allo …? Hal-looo!?“ Rudi, der Blödmann, knallte sein Handy zornentbrannt auf die Theke und stürzte das alkoholfreie Bier hinunter, das vor ihm stand. „Noch eins!“, rief er Petris, dem Gumwirt, zu.
„Mann, Rudi“, grinste Theo, „das ist ja schon das dritte!“ Normalerweise hielt er sich den ganzen Abend an einer einzigen Flasche fest, um gegen Petris’ Preiserhöhung zu demonstrieren. „Meinst du, du kannst dir das mit deinem kümmerlichen Studienratsgehalt leisten?“, gnickerte Raimund. Sie kicherten, verstummten aber umgehend, als Rudi sie mit einem vernichtenden Lehrerblick bedachte.
„Was wisst ihr schon!“, fauchte er verächtlich. Er hatte morgens einen Zettel hinter der Windschutzscheibe seines nagelneuen Elektro-SUV gefunden, auf dem sich eine Handynummer befand sowie der Hinweis: „Ich war es nicht, hab aber alles gesehen!“ Seitdem versuchte er den Zeugen zu erreichen, doch kaum ging jemand am anderen Ende dran, war die Leitung tot.
„Sehr mysteriös!“, sagte Theo, denn Rudi hatte trotz intensiver Suche nicht den geringsten Kratzer im Lack gefunden. „Ich sage euch, diese vertrackte Spurenlage ist was für Experten“, erklärte Raimund: „Wir brauchen Börne und die Spusi.“
GEW-Chor
Rudi kuckte ihn verständnislos an. „Börne und sein Gschpusi?“ Raimund schloss erschüttert die Augen. „Vergiss es“, sagte Theo. „Der Herr Oberstudienrat kuckt doch keinen ‚Tatort‘. Am Sonntagabend singt er mit dem GEW-Chor Schubert-Lieder!“
Rudi nahm das Handy und drückte erneut die Wahlwiederholung. Kurz darauf goss er sich das nächste alkoholfreie Bier in den Schlund.
„Unsichtbare Kratzer sind die schlimmsten“, sagte Theo. Rudi schnaubte vor Wut. „Dieses Auto ist ein Juwel, du Heini! Absolut ökokorrekt produziert, der Schadstoffausstoß ist gleich null – ganz anders als bei deinem alten Schrottmobil!“
„Dafür“, grinste Theo, „ist mein Schrottmobil mit Austauschmotor die Speerspitze der Revolution! No Nachfrage, no capitalism, verstehste? Obendrein fallen selbst die sichtbaren Kratzer und Beulen zwischen den alten Dellen nicht auf.“
„‚Speerspitze der Revolution‘ – haha!“, tönte Rudi. „Deine Revolution ist doch nur Dampfpalaver hier an der Theke! Ich hingegen mache reale politische Arbeit und dafür brauche ich ein Fahrzeug, das was hermacht.“ – „Bullshit! Du bist nebenberuflich Stadtverordneter in unserem Provinznest, nicht der Bundes-Robert, der bei den DAX-Konzernen vorfahren muss. Um beim Kaninchenzüchterverein in Bimmelbach eine Grußbotschaft zum Hundertsten loszuwerden, könntest du auch ein Dienstfahrrad nehmen!“
Rudi grunzte beleidigt und griff erneut zum Telefon. Zwei Tage später brachte er das Auto in die Werkstatt. Auch dort fand man keinen Schaden. Die Rechnung, die er am Ende des Monats für die Anrufe bei der fremden Nummer bekam, sorgte allerdings dafür, dass er im Gum fürs Erste ausschließlich und nur noch Leitungswasser trank.
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