Die Wahrheit: Übers Wasser gehen
Als Ex-Steuermann und Vierer-Verlierer kommen die ganz großen sportlichen Erinnerungen beim Besuch des ostwestfälischen Rudervereins wieder hoch.
I ch bin Ruderer. Ich sitze zwar inzwischen nur noch selten im Boot, aber früher war ich tatsächlich mal Leistungssportler, nicht sehr erfolgreich, aber begeistert.
Ich verdanke dem Rudern so viel, auch eine sehr frühe Alkoholpause, weil ich dachte, wir würden im Folgejahr Deutscher Meister werden, wenn ich das gesamte Wintertraining lang kein Bier und keinen Apfelkorn tränke. Dann verloren wir mit unserem Vierer das erste Rennen der Saison in Essen gegen irgendwelche Hünen aus dem Ruhrgebiet so haushoch, dass ich, kaum hatten wir die Ziellinie durchfahren, wieder mit dem Trinken begann.
Seither gab es keine nennenswerten Trinkpausen, aber eben auch nie wieder die Illusion großer sportlicher Erfolge, sieht man vom Besteigen der Zugspitze vor drei Jahren mal ab, was mir aber tatsächlich gelang.
Rudern ist ein faszinierender Sport. Man sitzt in einem wackeligen, sehr schmalen Boot, rollt mit dem Sitz hin und her, hebt dabei nach dem Zug die Ruder aus dem Wasser, rollt wieder nach vorn, führt die Ruder über das Wasser zurück, setzt sie wieder ein, zieht durch, hebt aus und rollt wieder zum nächsten Schlag nach vorn.
Absolut synchron ist ein Rudermuss
Angefeuert vom Steuermann müssen die zwei oder vier oder acht Ruderer das absolut synchron durchführen, ohne dass das Boot wackelt oder ins Wasser ditscht oder ein Ruder im Wasser hängen bleibt („Krebs gefangen“) – und das mit viel Kraft und gleichzeitig Eleganz. Eigentlich müsste es beim Rudern neben der Zeitmessung eine zweite technische Bewertungskategorie geben, ähnlich wie beim Synchronspringen.
Den ersten Ruderer meines Lebens sah ich im Vorspann der Kultserie „Die Zwei“. Zur Titelmelodie gab es eine kurze Szene, bei der Lord Brett Sinclair im Traditionsrennen Oxford gegen Cambridge mitfährt. Mein Idol war zwar der proletarische Tony Curtis als Danny Wilde, aber seither eiferte ich Seiner Lordschaft nach. Und es lohnte sich. Ich war zuerst Steuermann eines Achters und kam bis zu einer Regatta in Paris. Meine Freunde im Fußballverein fuhren nur durchs Kreisgebiet.
Nun trat mein alter Verein, der Bessel-Ruder-Club in Minden, vorigen Samstag auf dem Mittellandkanal in der Ruderbundesliga an. Motto: „Stark. Schnell. Gut.“ Auf einer Kanalinsel in der Mitte war das Ruderlager und ein VIP-Zelt. Und ich, der Ex-Steuermann und Vierer-Verlierer wurde zum VIP. Nach Ende der Rennen wurde die temporär installierte Steganlage quer über den Kanal gezogen. Schwimmelemente, „Jetfloat“ genannt, die aussahen wie die „Floating Piers“ der Verhüllungskünstler Christo und Jeanne-Claude im Jahr 2016. Hier und jetzt war das der Arbeitsweg für den Abbau.
Nach den Getränken des Nachmittags sah ich meinen ganz persönlichen Jesus-Moment vor mir. Ich schritt auf dem Steg von der Insel zum Ufer. Ich ging über Wasser. Über jenes Element, auf dem ich jahrelang im Boot schweißgebadet das Gleichgewicht gesucht hatte – wie nun wieder zu Fuß.
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