Die Wahrheit: O du Mirakel der neuen Marotte!
Die Wahrheit-Sommerserie „Wahre Wunder“ (15): Ohne Einkaufskorb gegen die Fahrtrichtung sitzen. Eine Eloge auf die persönliche Schrulle.
![Symbolbild für Marotte Symbolbild für Marotte](https://taz.de/picture/6500915/14/WahrMarotteAP06092023-1.jpeg)
Das größte Wunder der Welt ist für mich das stete Wundern über mich selbst. Oder, um es einen Hauch präziser zu fassen, das ewige Erz- und Endwunder, dass ich mich darüber tatsächlich noch wundern kann. Insbesondere staune ich immer wieder aufs Neue, dass ich mir offenbar alle paar Wochen unversehens eine brandneue Marotte zulegen muss. Obwohl ich eigentlich neben meinen vielen Spleens schon genügend Schrullen und Macken besitze, kann ich mich über einen kostbaren Neuzugang doch jederzeit so herzhaft freuen wie eine Kleingarten-Grillparty über ein kühles Fässchen Helles.
In meiner umfangreichen Sammlung will ich mich freilich gar keiner besonderen Extravaganzen rühmen. Das meiste darin ist weitverbreitet und alltagstauglich. Einen wahren Marottenklassiker habe ich zum Beispiel in der Gepflogenheit, das Haus nicht verlassen zu können, ehe ich mir nicht zwei frische Papiertaschentücher eingesteckt habe – es könnte mich ja jederzeit ein Schnüpfchen überraschen.
Im Supermarkt nehme ich mir grundsätzlich keinen Einkaufskorb, sondern balanciere die Waren zwischen Brustkorb, Unterarmen und den Armbeugen, baue mit leeren Kartons waghalsige Konstruktionen an und gelobe mir fürs nächste Mal (erfolglos) Besserung, falls an der Kasse dann doch alles runterfällt.
Penibler Oberlehrer
Ich kann allerdings auch anders. Wirtshäuser, die sprachliche Fehler in ihre Facebook-Werbung eingebaut haben, lernen mich als peniblen Oberlehrer und geifernden Rechtschreibfaschisten kennen, der genauso gut als Leserbriefschreiber für Die Welt oder die FAZ wirken könnte. Das mag uns in dem Moment zwar allen unangenehm sein, aber beim nächsten Mal geben sich die Leute vielleicht mehr Mühe und beauftragen ein professionelles Lektorat.
Beim vielgeschmähten Bahnfahren finde ich dank meiner Eigenart, ausschließlich entgegen der Fahrtrichtung sitzen zu wollen, während all die anderen Passagiere dazu inzwischen zu sensibel sind, selbst in prallvollen Zügen oft noch einen freien Sitzplatz.
Erheblich mehr Feingefühl erfordert indes eine Angewohnheit, die erst kürzlich hinzugekommen ist. Bei Gängen durch die Nachbarschaft musste ich feststellen, dass wegen des drückenden Sommerwetters ständig Haustüren offenstanden. Um diese überraschenden Einblicke in meine direkte Umgebung für die spätere Erinnerung aufzubewahren, begann ich heimlich mit dem Handy in die Treppenhäuser hineinzufotografieren: abgeschabte Briefkästen, gewundene Altbautreppenläufe, ungeputztes dunkelrotes Linoleum aus den Fünfzigern, renovierte Pseudomarmorböden mit Spiegelglanz.
Wer mich bei diesem Tun insgeheim beobachten würde, sähe, wie ich mich oft viertelstundenlang verlegen vor offenen Mietshaustüren herumdrücke und dabei betont unauffällig aufs Display starre. Da ich mich jedoch nur ungern bei meiner Hausflurspannerei erwischen lasse, stelle ich mich meist so, dass ich sowohl die Straße überblicken als auch bequem in den Flur hineinknipsen kann. So bin ich bislang noch nicht ertappt worden und habe es auch in Zukunft nicht vor. Diese prickelnde Angewohnheit, die ich eines Tages vielleicht zu einem richtigen Hobby ausbaue, vermittelt mir das erhabene Gefühl, hinter die oberflächliche Mietshausfassade der Dinge schauen zu können.
Verweigerer der Akzeptanz
Sehr harmlos stellt sich dagegen meine allerneueste mirakulöse Marotte dar. Beim Surfen im Internet, genauer: beim Betreten von neuen Websites bestätige ich seit zwei Wochen die Annahme von Cookies nicht mehr pauschal mit der „Alle akzeptieren“-Option, wie das vermutlich die meisten Menschen machen, seit die Europäische Datenschutzverordnung uns die Beschäftigung mit derlei Dingen auferlegt. Stattdessen wähle ich jedes einzelne Mal, wenn die Information „Wir verwenden Cookies“ aufpoppt, die Schaltfläche „Individuelle Einstellungen“ und suche mir solange einen Weg, bis am Ende lediglich die „notwendigen“ oder „funktionalen Cookies“ gespeichert werden. Mit nur 15 Minuten Verzögerung kann ich dann meine Lektüre fortsetzen – oder was immer ich gerade im Netz tue.
Warum ich mich immer wieder auf diese anstrengende Klick-Reise begebe? Mir gefällt der heroische Gedanke, dass ich meine Daten nicht vollkommen widerstandslos diesen schurkischen Internetmoguln und Datenräubern in den Rachen werfe, sondern dass ich sie ein klein wenig zappeln lasse. In meinen schönsten Träumen stelle ich mir vor, dass Mark Zuckerberg, Elon Musk und Jeff Bezos eines Tages zusammen stirnrunzelnd vor meinen Datensätzen stehen und sagen: „Verdammt, von diesem Teufelskerl haben wir lediglich 99 Prozent aller Daten, weil er immer nur die notwendigen Cookies zulässt. Wir müssen uns wohl einen analogen Privatdetektiv besorgen, um alles über ihn zu erfahren!“
Ehe die jungen Leute hinter meinem Rücken jetzt aber „Träum weiter, Alter!“ höhnen, möchte ich gestehen, dass mir diese Marotte, die in letzter Konsequenz tatsächlich die Regierung zu verantworten hat oder wenigstens den ahnungslosen Bemühungen des europäischen Gesetzgebers geschuldet ist, auf Dauer ein bisschen zu zeitaufwendig wird. Ich kann sie nur leider nicht von heute auf morgen aufgeben, sondern höchstens darauf warten, dass sie wunderbarerweise von einer anderen Marotte abgelöst wird. Darauf freue ich mich. Ihr werdet euch noch wundern.
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