Die Wahrheit: Ja, wir sind mit dem Radl da!
Die Wahrheit-Sommerserie „Wahre Wunder“ (8): Eine dramatische und beeindruckende Begebenheit aus der Hauptstadt der Wunderlichkeiten.
Manchmal gelingt es der Stadt noch immer, mich zu überraschen. Und das ist nicht einfach, denn ich bin Berliner, Ureinwohner, Sternzeichen Alter Hase. Der wundert sich über kaum noch was, der hat alles schon gesehen und gegessen und erlebt.
Aber nicht an diesem Tag. Da saß ich auf einer verwaisten Wartehäuschenbank der Berliner Verkehrsbetriebe, die verblüffenderweise immer noch BVG abgekürzt werden, am Kreuzberger Mehringdamm, der an sich schon Wunder genug ist. Fast ein Park mit seinen vielen Bäumen, vielerorts Bänken und klitzekleinen Grünanlagen vor den Häusern führt er Richtung Norden bergab, Richtung Süden bergauf – gemeinhin ist Süden ja unten auf Landkarten.
Da saß ich nur des Narrativs halber, denn was sonst würde mich dazu treiben, mich mitten an einem sonnigen Tag an eine zwar grüne, doch stark befahrene Hauptverkehrsstraße zu setzen – und genoss den Tag und die Menschen.
Denn natürlich sind es die Menschen, die mich wundern lassen, Menschen, die außergewöhnliche Dinge tun: Busfahrer, die warten, während man auf ihren Bus zuhastet. Backwarenfachverkäuferinnen, die einen nicht aus Fischaugen anstarren, sondern den Eindruck erwecken, sie freuten sich, dass man gerade bei ihnen bestellt. Radfahrer, die auf dem Radweg fahren.
Der Radweg am Berliner Mehringdamm ist beeindruckend: schön und neu und breit und dennoch nicht so breit, dass die Fußgänger keinen Platz mehr haben. Der Radweg am Mehringdamm – ein Wunder für sich. Auch dass die Radfahrer, obwohl sie Platz haben, hier stets und wie früher auf dem schmalen, weißen Streifen fahren, der den breiten neuen Rad- vom Fußweg trennt.
Eiernder Fahrstil
Ja, an diesem Tag war es ein Radfahrer, der sich meine Bewunderung verdiente. Ich war inzwischen aufgestanden beim Buswartehäuschen und schlenderte den Mehringdamm hinauf. Oder hinab? Der Radfahrer, der mir entgegenkam, fuhr selbstverständlich nicht auf dem Radweg, er fuhr auch nicht auf dem schmalen, weißen Streifen, seine Fahrweise war auch nicht besonders straßenverkehrsordnungskonform, nein, er eierte, einer imaginären Sinuskurve folgend, von links nach rechts über den Bürgersteig, dann wieder zurück nach links und so fort. Hätte man diese Sinuskurve in eine elektronische Maschine eingespeist, hätte sich sicher ein wunderbarer Klang ergeben, wahrscheinlich derselbe Klang, den der eiernde Radfahrer gerade in seinem Kopf hörte, eine Mischung aus Fahrtwind und Ommm.
Apropos speiste: Nicht die Sinuskurve war mein Wunder des Tages, so schön und anmutig sie auch sein mochte, sondern vielmehr die Tatsache, dass der Radfahrer beim Fahren aß. Auch dies ist noch nicht sonderlich sonderbar, fast jeder hat schon mal gegessen, auch außer Haus, to go, unterwegs, manch einer trinkt auch ein Wegbier. Ich habe Fahrradfahrer mit dem Handy telefonieren gesehen, SMS verfassen oder ein gutes Buch lesen – zum Beispiel meinen Roman „Das Fallen“, in dem es überhaupt nicht ums Radfahren geht, es kommt nicht mal ein Fahrrad drin vor.
Jener radelnde Mitbürger aß nicht nur einfach einen Schokoriegel, ein Eis oder einen Kanten trockenen Brotes, nein, er aß ein asiatisches Gericht. Aus einer Pappbox. Mit Stäbchen.
Das war ganz sicher nicht ungefährlich. Es konnte sich eine der Nudeln um sein Zäpfchen wickeln und einen Husten auslösen, der ihn vom Rad schütteln würde. Ein ihm bis dahin unbekanntes, asiatisches Gewürz konnte eine bei ihm bis dahin unentdeckte Allergie auslösen, die ihn in Krämpfen aus dem Sattel werfen würde. Eines der Stäbchen konnte seinen fettigen Fingern entgleiten und zwischen die Speichen oder in die Kette gelangen, was mindestens zum Verlust des Nudelgerichts führen würde.
Also wich ich ihm erst einmal cosinusförmig aus und rief ihm sodann, als ich ihn passierte, fröhlich zu: „Haben Sie einen Rücktritt?“
Erstaunen mit Lauch
Er, mich erstaunt anblickend und sich gerade an einem Stück Lauch oder einem Cashewkern verschluckend, eierte noch eine Weile funktionslos auf dem Gehweg herum, schrammte dann ein paar Meter asymptotisch an der Hauswand entlang – was sich ja eigentlich nicht gehört, denn bekanntlich berührt man eine Asymptote nicht, sonst wäre sie keine Asymptote, sondern nur eine ganz normal gebogene Wald-und-Wiesen-Linie – und stieß schließlich an der Kreuzung mit einem anderen Radfahrer zusammen, der mich fast noch mehr verwunderte an diesem Tag und der der eigentliche Grund ist, weshalb ich über diese kleine Begebenheit berichte.
Der andere Radfahrer war – sonst hätten sie kaum zusammenstoßen können – aus einer Nebenstraße gekommen. Und von der anderen Straßenseite. Er hatte die Kreuzung überquert, nachdem er vom richtigen Radweg abgekommen war, während er sich zuerst unter ein paar hinübereilende Fußgänger gemischt hatte. Alles bei Rot.
Sodann war er nach rechts abgebogen, dabei einige entgegenkommende, bei Grün fahrende Autos schneidend, war zunächst auf die entgegengesetzte, für ihn richtige Fahrbahn gelangt, von der aus er mit einem leichten Schlenker auf den Fußweg der Straße steuerte, um schließlich seiner ursprünglichen Fahrtrichtung zu folgen.
Dabei musste dem Radfahrer von der Aktion derart warm geworden sein, dass er spontan beschloss, sein T-Shirt zu wechseln. Er zog es also noch während der Fahrt über die Kreuzung aus, weshalb er auch seinen nudelessenden Sportsfreund nicht sehen konnte, der ihm kauend entgegenkam, als er gerade ein Stück Stoff vor dem Gesicht hatte, was sich aber auch als vorteilhaft erwies. Nicht dass die dünne Lage Baumwollstoffs viel hätte abhalten können von der Wucht des Aufpralls, aber immerhin konnte man nichts von dem sicher schlimm entstellten Gesicht sehen.
Ein weiterer Radler fuhr kurz darauf an der Szenerie vorbei, aber er bemerkte nichts von all dem Wunderlichen, lauschte er doch gedankenversunken dem Lied, das er sich selbst gerade auf der Gitarre vorspielte, während er dem abendlichen Ampelrot entgegensauste.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour
Täter von Magdeburg
Schon lange polizeibekannt
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt