Die Wahrheit: Die perfekte Lebendfalle
Eine Suada gegen den Strich, denn Themen werden kaum noch bewusst gesetzt und weiterverfolgt, und überhaupt und sowieso, wir verstehen uns, gelle…
E s ist nicht einfach nur ärgerlich, sondern gefährdet sogar den ungehinderten Strom der Meinungen, wenn in den Massenmedien und Talkshows so getan wird, als sei es gesellschaftlicher Konsens, nicht am helllichten Tag mitten auf die Straße zu scheißen. Andere Stimmen finden kein Gehör, werden mutwillig ausgeblendet. Das von Presse und Politik in sich gegenseitig nährender Selbstvergewisserung gezeichnete Narrativ, das Scheißen auf die Straße am helllichten Tag werde allgemein abgelehnt, verhindert bereits im Ansatz eine faire demokratische Auseinandersetzung.
Denn egal, ob öffentliches Defäkieren oder das Erbrechen in im Hausflur abgestellte Kinderwagen hinein: Die Themen werden ohnehin kaum noch bewusst gesetzt und weiterverfolgt, sondern von emotionalen Erregungskurven vorgegeben. Die Objektivität bleibt dabei auf der Strecke, und es entsteht eine künstliche Mehrheitsmeinung, die jeden, der – anderes Beispiel – auch nur in Frieden in der U-Bahn onanieren möchte, dem ritualisierten Protest einer durch eine mediale Schweigespirale manipulierten Meute aussetzt.
Völlig richtig beschreibt diese Dynamik übrigens auch Waldemar Walter Wicht in seinem Wälzer, „Alles Fotzen außer Mutti“: Die Masturbanten sehen sich unversehens einer konstruierten Hegemonialmeinung gegenüber, die die eigene Position unzulässig denunziert und delegitimiert.
Die Leute müssen so ja den Eindruck gewinnen, 95 Prozent der Bevölkerung fände es beispielsweise richtig, das Leergut nicht direkt aus dem Fenster auf die Straße zu entsorgen, nur weil diese Haltung auch zu 95 Prozent in den Medien verbreitet wird. Wie kann denn das sein: 95 Prozent hier und da, o Wunderpopunder, ebenfalls 95 Prozent? Ein Schelm, der sich nichts Arges dabei denkt!
Zurechtgeschusterter Scheinkonsens
Es ist ein trügerischer, von Politik und Medien zurechtgeschusterter Scheinkonsens. Nehmen wir doch mal die Akzeptanz von rechtsextremen Ansichten. Vor einem Dreivierteljahr ergab eine repräsentative Umfrage unter 20 Besuchern eines Rechtsrockkonzerts, dass nicht weniger als 100 Prozent der Bevölkerung gern Nazis an der Regierung sähen.
Ein Lob der Empirie, doch leider finden sich solche eigentlichen Mehrheitsmeinungen gerade in den Leitmedien nirgends abgebildet. Da wird dann gern das nur im ersten Moment clever klingende Quatschargument „False Balance“ bemüht. Aber eine falsche Balance gibt es nicht, denn eine Balance ist immer eine richtige Balance, sonst wäre sie ja gar keine, und der Körper geriete aus dem Gleichgewicht – das ist Physik der ersten Jahrgangsstufe.
Doch Fakten aus Technik, Wissenschaft und Philosophie sind den Wortverdrehern schnuppe. Der Aufbau ihrer Manipulationsmaschine ist denkbar einfach. Ein verengter Meinungskorridor führt in eine geschlossene Echokammer, darin befinden sich als Köder ein paar leichte Likes – es ist im Grunde die perfekte Lebendfalle für den demokratischen Diskurs.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!