Die Wahrheit: Jubelrüben
Tagebuch einer Wahlbeobachterin: Die nicht enden wollenden Stimmenauszählungen in den USA rauben der Weitwegwählerin jeden Schlaf.
E ine Woche lang rotiert in meinem Kopf ein alter Kinderreim: „Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, / eine alte Frau kocht Rüben.“ Die alte Frau bin ich, und so fing es an:
Tag eins. US-Wahlen. Die halbe Nacht geguckt und eingeschlafen.
Tag zwei. Beim Aufwachen leuchten Florida und Ohio auf der Karte rot, die Farbe der Republikaner und der Coronaverheerung, die unter einem golfspielenden Präsidenten weiter explodiert.
Tag drei. Warten auf Rettung. Kilometerlange Spaziergänge und Trostshopping in Wohnbedarfläden, in die mich sonst keine zehn Pferde bringen. Schuldgefühle. Übermäßiger Kuchenkonsum. Habe ich den von meinem New Yorker District gemailten Wahlumschlagausdruck korrekt entlang der gestrichelten Linien gefaltet und verklebt? Oder ist der meterlange Wahlschein unterwegs herausgefallen? Haben Trumps Helfer den Postboten entführt? Zu spät, heule ich mich bei einer amerikanischen Freundin aus, vor meinem Umzug nach Deutschland, da hätte ich mich noch schnell in Florida registrieren müssen! Ich bin schuld, wenn dieser Albtraum …
Tag vier. Eine alte Frau kocht Speck, der hilft gegen fast alles. Und tatsächlich! Ein Hoffnungsschimmer, Pennsylvania kippelt. Schlafpensum bis jetzt ungefähr zehn Stunden.
Tag fünf. Nach einem Marktbesuch bricht beim Coffee to go einer der am Straßenrand gekaperten Sperrmüllstühle unter meiner amerikanischen Freundin zusammen. O Gott, ein Omen?! Zu Hause sofort CNN einschalten, in Pennsylvania steigt Bidens Vorsprung, mein Blutdruck steigt mit.
Tag sechs. Ablenkung mit der Bundesliga, bei Sky läuft Werbung für Fußballwetten, im Bild brüllende Männerhorden: „Im siebten Himmel, am Boden zerstört. Deine Liebe wird aus Wut gemacht. Fassung, Stimme, Verstand, alles hast du mir genommen, nur um mir alles zu geben. Du bist Fußball, wer dich liebt, muss Einsatz zeigen!“ Wenn man „Fußball“ mit „Trump“ ersetzt, wirkt das wie ein Clip über die „Proud Boys“. Das sind die Typen, die für ihren soziopathischen Leader dessen Gegner morden würden. Echt, bwin, stellt ihr euch so wahre Fans vor?
Entnervtes Umschalten zu CNN, wo gerade Joe Biden zum gewählten Präsidenten erklärt wird. Erlösung! Und du bist weg, Orange Man! Wir finden uns mit zwei Haushalten zusammen und schaffen gerade mal ein Glas Alkoholisches, bevor wir erschöpft zusammenklappen. Auf Whatsapp explodiert befreiter Jubel, und dann …
… Tag sieben ist Karneval. Am 11. 11. trauern ein paar kostümierte Jecken in den sogenannten Hochburgen mit ein paar Piccolöchen um ihren abgesagten Jahreshöhepunkt; an den Wochenenden feiern wie gehabt mit Aluhüten verkleidete Coronaleugner ihren verqueren Dauerfasching und faseln von Ermächtigungsgesetzen. Wir leben in anstrengenden Zeiten. Ich würde jetzt bitte gern schlafen, so ungefähr bis Ostern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Autounfälle
Das Tötungsprivileg