Die Wahrheit: Mit kühlem Herzen in die Rente
Das Ende ist nahe. Die Kanzlerschaft der Angela Merkel klingt aus. Wohin wird es die wichtigste Frau Deutschlands treiben?
Unerbittlich tickt die Uhr. Tick, tack, tick, tack. Merkel blickt von ihrem Erkerfenster hinaus ins Novemberduster, in der Hand eine Tasse heißen Tees. Nachdenklich rührt sie mit dem Finger darin. Ihr Blick schweift hinaus, über die Täler und Senken von Merkelmoore, dem Stammsitz der Merkels in den uckermärkischen Highlands. Ihre Gedanken schweifen ebenfalls, sind wie bunte Laserstrahlen in die Diskonebel der Zukunft gerichtet. Ihre politische Uhr tickt. Alle wissen es. Ihre Amtszeit bemisst sich nur mehr in Monaten, Wochen, Jahren allerhöchstens.
In der Union toben bereits die Nachfolgekämpfe. Markus Söder sitzt in der Bavaria One Richtung Kanzleramt, Friedrich Merz hat sich bereits großzügig in Bild, BamS und Glotze eingekauft, Jens Spahn brach extra eine Pandemie vom Zaun. Die subtilen Herabwürdigungen für die Kanzlerin nehmen jedenfalls schon jetzt zu. Merkels Sekretärinnen lassen bereits Essbesteck aus dem Büro mitgehen, Kanzleramtsminister Helge Braun hat schon einen Großauftrag für neue Visitenkarten ausgegeben, mit offener Namenszeile.
Hier oben, auf Schloss Merkelmoore, wo die Zeit stehengeblieben scheint, spürt man ihr Vorüberstreichen nur umso stärker. Das Vorüberstreichen Merkels, wenn sie mit ihrem weiten Morgenmantel die Porzellankaraffe von der Anrichte fegt, ist im gesamten Westflügel zu hören. Und nicht nur die wenigen Hausangestellten fragen sich: Wie lange noch?
Vier Amtszeiten lang hat sie dem Land gedient, dabei immer ausschließlich an andere, niemals an sich selbst gedacht. Für ihre beiden Hobbys, Abspülen und Eintopf, blieb dabei kaum Zeit, auch die Merklin-Eisenbahn im Keller setzt Staub an. Merkels griechische Landschildkröte „Helmut“ musste vor zwei Jahren eingeschläfert werden, wegen Vernachlässigung. Ihre Sammlung vergoldeter Cadillacs steht verwahrlost in der Familiengarage.
Lukrative Karriere bleibt ihr versperrt
Könnte es sein, mag Angela Merkel nun in manch stiller Stunde denken, dass sie so sehr an die Zukunft gedacht hat, dass sie keinen Platz für sich selbst darin geschaffen hat? Die klassischen Post-Kanzlerschafts-Karrieren hat sie sich selbst versperrt. In Europa herrscht ihre böse Stieftochter Ursula von der Leyen; in der CDU der stinkende König Testosteron; in ihrem Wahlkreis in Mecklenburg-Vorpommern künftig ein Mann namens Günther. Eine Karriere in der Wirtschaft ist nicht mehr möglich, seit die Wirtschaft in der Coronapandemie zusammengebrochen ist. Hat für Merkel denn noch irgendwo irgendjemand ein Plätzchen, ein Auszugshaus, einen winzigen Hühnerstall, in welchem sie jesusmäßig übernachten könnte? Dies sind Gedanken, wie sie sich derzeit viele machen: viele Politjournalisten, die gefühlige Porträts über Angela Merkel schreiben müssen.
Die kühle Taktiererin Merkel war selbstverständlich in Sachen Rente nicht völlig untätig, anders als in ihrem Amt. Sie hat vorgesorgt, zumindest im Groben. Notfalls könnte sie nach dem Ausfall ihres Arbeitseinkommens eine Zeit lang einigermaßen über die Runden kommen. Ihr Vorratskeller ist bis in den letzten Winkel gefüllt mit Eingemachtem, mit jenem Eingemachten, an das es in ihrer aktiven Zeit so oft ging. Die extrem widerstandsfähige Mecklenburgische Weißkohlsorte „Roswitha“ kann in Essiglake bis zu vier Jahre haltbar bleiben, oft noch wesentlich kürzer. Geruch und Geschmack nehmen dabei kontinuierlich an Intensität zu, wie bei einem guten Rotwein oder einer guten Kanzlerschaft.
Auch für ihre Wohnung hat Merkel vorgesorgt: Wenn sie das Apartment an der Museumsinsel aufgeben muss, das Feldbett im Kanzleramt verliert und auch ihren Stammsitz in den Highlands nicht mehr halten kann, steht ein Tiny House am Stichkanal in Köpenick bezugsfertig für sie bereit. Komplett mit Kochnische, Wärmelampe und eigenem Satelliten-TV. Wenn sie es schafft, sich mit dem Besitzer des benachbarten Restaurants Mykonos einig zu werden, wäre theoretisch auch eine kostenlose WLAN-Mitbenutzung im Bereich des Möglichen. Strom lässt sich im Zweifel bei benachbarten Tiny Houses „abzwacken“ – wer wird es schon wagen, sich über eine leibhaftige Ex-Kanzlerin zu beschweren? Jedenfalls in materieller Hinsicht ist Merkel denkbar abgesichert.
Selbstwertgefühl steigert sie mit dem Spiegel
Doch geht es um viel mehr als das grausame Schicksal Altersarmut. Von Führungspersönlichkeiten, die es gewohnt sind, täglich ihren Namen in der Zeitung zu lesen, ist bekannt, dass sie nach ihrer Verrentung in ein tiefes Loch fallen. Merkel wird ihre psychologische Resilienz pflegen müssen, wird sich mit verhaltenstherapeutischen Tricks auf dem Damm halten: Zweimal täglich „Du bist wichtig, du bist wertvoll“ zum eigenen Spiegelbild zu sagen, kann das Selbstwertgefühl des Spiegels immens steigern helfen. Wenn alle Stricke reißen, könnte die perfekt russisch sprechende Kanzlerin immer noch Oligarchin werden, Ölpipelines kreuz und quer durch Europa ziehen und auf Instagram rührende Fotos von sich posten. Aber das ist ein Szenario, über das viele nur mit Schaudern nachdenken, am schauerlichsten wohl Merkel selbst.
Und was, wenn Merkel gar nicht geht? Wenn sie, gleich Trump, noch in der Wahlnacht ihren Sieg verkündet, die Auszählung weiterer Stimmen unterbindet? Auch wenn sie gar nicht zur Wahl steht? Was, wenn sie, die zeitlebens Besonnene und Sonnenbeschienene, zum Ende hin komplett durchdreht? Deutschland atomar bewaffnet, ihr Pferd zum Senator ernennt und einen Krieg mit Thailands König Rama X. um den Starnberger See, den der mysteriöse Monarch schon länger für sich beansprucht, vom Zaun bricht – „just for the lols“? Rechtlich gesehen hätte Vizekanzler Scholz hier kaum Handhabe, er müsste sie schon, wie ehedem Joseph Ratzinger Papst Johannes Paul II., mit einem Kopfkissen im Bett ersticken.
Kann Merkel überhaupt etwas anderes als Kanzlerin? Kann sie noch selbst Auto fahren, einkaufen, Zähne putzen? Normalität ist wie ein Muskel: Wenn man ihn mit Proteinpräparaten aufpumpt, sieht er fantastisch aus. Politik ist so ein Proteincocktail – der einen scheinbar ewig jung hält, dafür aber entsetzlich nach Kleie schmeckt. In seinem Vortrag „Politik als Beruf“ unterscheidet der Philosoph Max Weber zwischen Gesinnungsethikern und Verarbeitungsethikern: Die einen fühlen sich den anderen moralisch überlegen, dafür haben die anderen den besseren Stundensatz. Leider starb Max Weber, bevor Merkel ihn in dieser wichtigen Frage zu Rate ziehen konnte. In München, der Hauptstadt Markus Söders. Zufall? Oder ein perfides Komplott?
Das wird Merkel wohl erst erfahren, wenn es schon längst zu spät ist. Oder, um es mit Shakespeare zu sagen: Löchrig das Haupt, das die Krone trägt!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
Kritik an Antisemitismus-Resolution
So kann man Antisemitismus nicht bekämpfen
Klimaziele der EU in weiter Ferne
Neue Klimaklage gegen Bundesregierung