Die Wahrheit: Ein Sparschwein mit Brille
Geschichten aus der abenteuerlichen Welt der Optiker und ihrer hackenden Raben: auf der Suche nach einer neuen Sehhilfe.
Irgendwann war es nicht mehr tragbar: Die ständigen, aus optischer Verwechslung geborenen Seitensprünge konterkarierten meine sonst geradezu sprichwörtliche Tugendhaftigkeit und gefährdeten massiv meine junge Ehe. Ich brauchte unbedingt eine neue Gleitsichtbrille, denn die alte pfiff aus dem allerletzten Loch. Wer nicht schlecht sieht, kann sich kaum vorstellen, wie elend sich das anfühlt. Am ehesten würde ich es mit dem Dilemma vergleichen, dass man unbedingt scheißen muss, aber nicht kann.
Normalerweise suche ich in solchen Fällen das Brillengeschäft Schielmann auf. Doch die tastende, flüsternde, blasse, zögerliche, ätherische und dabei überaus unnahbare Sterilität der Angestellten schlug mir immer aufs Gemüt. Jedes Mal, wenn ich den Laden verließ, hatte mich ihre androgyne Leblosigkeit seelisch zutiefst erschöpft. Was ich sonst aus Prinzip nie denke, hier dachte ich es doch: „Das sind ja überhaupt keine richtigen Männer. Und so was nennt sich Schielmann.“ Über die Mitarbeiterinnen dachte ich das Gleiche. Außerdem ist es bei Schielmann stets sauvoll, man muss ewig warten und am Ende – ganz entscheidend – ist es gar nicht mal so billig.
So war ich froh, als ich auf einer Party mit einer anderen Brillenschlange ins Gespräch kam, und mich, Partythema Nummer eins unter Fehlsichtigen, mit ihr über Sehhilfen austauschte. Außenstehende hätten nur Bahnhof verstanden, als wir uns die technischen Daten unseres Maulwurfquartetts routiniert um die Brillenbügel schlugen: Kurz- und Weitsichtigkeit, Augenabstand, Hornhautverkrümmung, Gleitsicht, Entspiegelung, Anzahl der Dioptrien, Schielmann oder Jawollo-Optik. „Vergiss Schielmann!“, riet mir die freundliche Blindschleiche und empfahl mir eine sagenhaft billige Brillenklitsche: Doctor Look.
Die nächstgelegene Filiale befand sich am Alexanderplatz. Dort empfing mich ein eher hemdsärmelig aufgestellter Mitarbeiter, volksnah und robust. Mit den feingliedrigen Leisetretern von Schielmann hatten die hier wenig Ähnlichkeit. Sie wirkten vielmehr wie ehemalige Wachschutzmitarbeiter, die in Rekordzeit auf Discount-Optiker umgeschult hatten. Walkie-Talkie, Taschenlampe und Schlagstock hatten sie in die Ecke gestellt, um nach Phoropter und winzigen Schraubendrehern zu greifen. Statt T-Shirts mit der Aufschrift „Thor Steinar“ trugen sie welche mit dem Logo von Doctor Look, einem lächelnden Sparschwein mit Brille, und auch rhetorisch hatten sie dazugelernt: Anstelle von „Versuch das noch einmal, und ich brech dir den Arm“, lautete das modifizierte Kundengespräch nun: „Versuchen Sie bitte die unterste Reihe noch einmal zu lesen.“
Augenklappe, die erste
Seit unser reiches Land auch noch die letzten Feigenblätter einer angeblichen Solidargemeinschaft auf den Kompost gepfeffert hat, bedeutet das für viele: keine neuen Zähne und keine neue Gleitsichtbrille. Die hier aber würde ich mir locker leisten können. Bis zum Monatsende boten sie ein einfaches Modell zum Aktionspreis von hundertzwanzig Euro an. Das war unschlagbar. Bei Schielmann hätte ich für dasselbe Geld noch nicht mal eine Augenklappe bekommen.
Nachdem ich mir aus der reichhaltigen Palette der Ein-Euro-Gestelle eines ausgesucht hatte, bat mich einer der frischgebackenen Optikergesellen zum Sehtest. Mit verschiedenen Gläserstärken gingen wir die Buchstabentafel durch. An der untersten Reihe blieb ich jeweils hängen. „Versuch das noch einmal, und ich brech dir den Arm“, sagte er in Gedanken versunken.
„Wie bitte?“
„O, entschuldigen Sie – ich meinte: Versuchen Sie die unterste Reihe noch einmal und …“
„… und was?“
„… und ich brech Ihnen den Arm. Bitte.“ Nun, mussten wir beide herzlich lachen. Vor allem über das „bitte.“ Wie selbstironisch er sich und seine Spießgesellen auf die Schippe nahm und mich gleichzeitig zur Eile drängte. Bei Schielmann hätte es das nicht gegeben, die gingen ja zum Lachen in den Keller mit den Kassengestellen. Zügig waren wir fertig, und zwei Wochen später konnte ich die neue Brille abholen.
Ja, wir sind mit dem Nasenfahrrad da
Sehen konnte man damit leider nicht besonders. Das hatte ich in der ersten Freude über den guten Preis gar nicht so gemerkt, jetzt aber machte sich Ernüchterung breit. Der obere Part für die Kurzsichtigkeit war eher zu stark. Die Augen ermüdeten schnell, und der Reiz, meine Mitmenschen auf größere Entfernung nackt und von nahem als Skelette zu sehen, war rasch verflogen. Der Lesebereich wiederum wirkte schwach und eingeengt, so dass ich auf der Lesebühne nur noch so tat, als läse ich vom Blatt ab, während ich die Texte in Wahrheit frei improvisierte. Zum Glück merkte keiner was, die hörten eh nie richtig zu.
Gern hätte ich die Brille zurückgebracht und auf Nachbesserung bestanden. Doch ich hatte Angst vor den robusten Umgeschulten. Wer weiß, was in denen noch alles schlummerte. Wenn ich mich beschwerte, würden die mir womöglich ihre winzigen Schraubenzieher bis zum Schaft in den Wanst rammen und zweimal umdrehen.
Oder, schlimmer noch, sie brächten mich in den Keller der Filiale. Dort erwartete mich auf einem Thron aus Knochen (oder Brillengestellen – so genau konnte ich das in dem diffusen Licht nicht ausmachen) ein vielleicht hundert, vielleicht tausend Jahre alter Wizard in einer dunkelgrauen Kutte aus grobem Sackleinen: Doctor Look.
Nevermore!
Auf seiner Schulter saß ein Rabe. Der Alte hob seinen Blick unter der Kapuze und starrte mich mit weißen Augen, denen die Pupillen fehlten, prüfend an. Er sah mich nicht und sah doch alles. „Die Brille ist gut“, krächzte er sein Urteil; der Rabe erhob sich von seinem Platz und hackte mir blitzschnell beide Augen aus. Hätte ich vorher genauer hingesehen, hätte ich die zahlreichen Blutspritzer an den Wänden und auf dem Kittel des Firmengründers wahrgenommen. Nun war es zu spät.
Jedenfalls waren es Gedankenspiele wie dieses, die mich von einer Reklamation Abstand nehmen ließen. Bei Schielmann hingegen wäre ich selbstbewusst in den Laden gestürmt und hätte laut „Heho“ gerufen. „Heho, mit meiner Brille stimmt was nicht! Jetzt aber frisch ans Werk, ihr Pfuscher!“
Die stillen Menschen wären furchtsam zusammengezuckt. Sie vertrugen keinen Lärm, kein Licht, keine Gerüche, keine plötzlichen Bewegungen und keine Farben. Alles, was den fahlen Einklang ihrer temperamentlosen Parallelwelt aufbrach, verstörte sie. Und so hätten sie alles getan, um den Eindringling zufriedenzustellen, damit er wieder verschwände. Für den Kunden ein nicht zu unterschätzender Vorteil.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut