Die Wahrheit: Mein modernisiertes Leben
„Im vorigen, dem Karl-Marx-Jahr ist unser Mietshaus aus dem Milieuschutz gefallen. Nun wird deutlich, was das für uns genau bedeutet…“
D er eine Zeit lang recht beliebte Aufkleber „Eure Armut kotzt mich an“ ist offenbar aus der Mode gekommen. Wahrscheinlich erübrigt er sich auch, denn viele Autos in meiner Straße bilden diese klare Ansage schon in der Größe ihres Hubraums ab – und zwar völlig unironisch. Die Stoßstangen befinden sich auf Kopfhöhe meines dreijährigen Enkels, und ich überlege, ob ich ihm ein hohes Fahrradfähnchen in die Hand drücke, damit er die Chance hat, von den Oberförstern in ihren Megajeeps wahrgenommen zu werden.
Im vorigen, dem Karl-Marx-Jahr ist unser Mietshaus aus dem Milieuschutz gefallen. Nun, pünktlich zu Beginn des Jahrs des Schweines, wird deutlich, was das für uns genau bedeutet. Das in den neunziger Jahren mit Steuergeldern ganz passabel sanierte Haus soll richtig schick werden. Balkone, wo nie welche waren, Fahrstühle und sonstiges Zuckerzeugs. Gut für die, die sich das leisten können, blöd für die anderen, die bitte zeitnah ausziehen mögen.
In der foliantenartigen Modernisierungsankündigung werden uns Fahrradständer, Müllplatz und Spielplatz im Hof versprochen. Selbstverständlich verbunden mit der entsprechenden Umlage auf die Miete. Es ist nun nicht so, dass diese Annehmlichkeiten nicht vorhanden wären. Selbst die praktische Einrichtung von Briefkästen hatte sich auch im Osten schon durchgesetzt. Zugegeben nicht in der nun angekündigten „Optik gebürsteten Stahls“.
Ich kann ihn kaum erwarten, meinen neuen Briefkasten, und er soll mich auch nur rund acht Euro kosten. Pro Monat. Jahr um Jahr, vermutlich bis die Eigenbedarfsklage der neuen Eigentümer durch ist und ich raus bin.
Nun macht sich etwas soziale Unruhe in unserem Haus breit, besonders unter den Ureinwohnern östlicher Geburt. Bei Zugezogenen habe ich festgestellt, dass noch bei dem brotlosesten Künstler eine Wirtschaftswundererbschaft in petto ist, was für sie den Blick in die Zukunft erheblich entspannt.
Wir Ossis hatten es nicht so mit dem Wirtschaftswunder, und die Testamentsvollstrecker wirken deutlich magerer. Doch wie in jeder Notgemeinschaft rappelt es gehörig im Karton. Der Ton im Haus wird rauer. Und ganz sicher denken manche drüber nach, ihre Wohnung selbst zu kaufen … Eben das hatte mir vor Jahren meine Bankberaterin als Altersvorsorge vorgeschlagen, aber mangels Kapital verworfen.
Gestern zog ich eine Nachricht von ihr aus dem unmodernisierten Briefkasten. Meine Spargroschen – irgendein angeblich sicherer Fonds ist abgekackt und wurde von einem anderen mit großen Verlusten geschluckt. Die Bank wird ganz zärtlich: „Details zu der Verschmelzung können Sie den beigefügten Verschmelzungsinformationen entnehmen. Entweder Sie nehmen an der Verschmelzung beider Fonds teil oder Sie geben Ihre Fondsanteile ohne weitere Kosten zurück.“
Klingt nicht gut, aber das Jahr des Schweins soll ja Glück bringen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“