Die Wahrheit: Die neuen Nachbarn
Auch die Begrüßung neuer Nachbarn will gelernt sein. Soll man sie knallhart mit den Zuständen konfrontieren oder doch lieber ehrlich sein?
M an weiß ja nicht gleich von Anfang an, wie das Leben so geht, und deshalb stellt man sich früh schon Fragen. Was ist toller: Maikäfer oder Marienkäfer, Kniestrümpfe oder Socken, Buntpapier oder Wasserfarbe? Meistens wächst sich das mit den Jahren aus, aber manchmal erwischt man sich dabei, dass man nicht genau weiß, wie man etwa die neuen Nachbarn begrüßen soll, die gerade in die Wohnung gegenüber eingezogen sind. Ehrlich und nett oder ehrlich und ehrlich?
„Herzlich willkommen im Haus. Die Leute aus dem Souterrain sind absolute Prolls, die man am liebsten nicht mal von hinten sehen will. Die seltsame Frau aus dem ersten Stock ist gruselig – wir vermeiden es, ihr über den Weg zu laufen, denn ihr Gesicht ist befremdlich. Der Idiot aus dem Mittelgeschoss ist gefährlich. Der scheint eine psychische Störung zu haben und setzt regelmäßig seinen verrotteten Balkon in Brand. Die einzig Normalen hier im Haus sind wir.
Wir informieren sie deshalb direkt darüber, dass wir jede Nacht zwischen 22 Uhr und 23.30 Uhr durch das Treppenhaus geistern, weil unsere Katze das so will. Die Katze ist eigentlich ein alter Kater, der ständig knurrend an den Fußmatten des gesamten Hauses kratzt und uns hin und wieder nach dem Leben trachtet, aber das nur nebenbei.
Bitte wundern Sie sich nicht, wenn sie nächtliches Gekicher wahrnehmen, weil wir das verstörende Gebaren dieses seltsamen Tieres ziemlich witzig finden. Und wenn Türen klappern und Ketten rasseln, liegt das nur daran, dass wir das Vieh vor Mitternacht wieder einfangen und wegsperren müssen, denn wir wissen nicht, wie es bei einem Zusammentreffen mit Mitmietern reagieren würde. Das Beste, was sie in einem solchen Fall tun können, ist, sich die Ohren zuzuhalten und an etwas anderes zu denken.
Manchmal verrücken wir auch die ganze Nacht unsere Möbel, aber das hören nur die alten Leute unter uns oder sie hören es nicht, weil beide stocktaub sind und selbst die ganze Nacht brüllen. Was wir noch nicht erwähnten: Wir schauen gerade einen Film von Roman Polanski mit dem Titel ‚Der Mieter‘ an. Haben sie Lust, das zur Eingewöhnung mitzugucken?“
So geht ein netter Willkommensgruß wohl eher nicht. Aber wer hat denn gesagt, dass man nett sein muss?
„Hören Sie! Wenn es ihnen jemals einfallen sollte, irgendetwas an unserem Lebensstil zu kritisieren oder sich zu oft mit den Prolls aus dem Souterrain, der gruseligen Frau aus dem ersten Stock oder dem gemeingefährlichen Irren aus dem Mittelgeschoss abzugeben, dann machen Sie sich auf etwas gefasst. Wir können nämlich auch anders, wir sind nicht so nett, wie wir aussehen, aber das nur zu ihrer Sicherheit und auch nur nebenbei …“
Selbstverständlich sind das nur Gedankenspiele, denn alle Nachbarn in unserem wunderschönen Haus lieben einander heiß und innig.
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