Die Wahrheit: Wiesn in der Krisn
Dem Münchner Oktoberfest stehen schwere Zeiten bevor – genau wie der CSU bei der Bayernwahl. Es sollte sich wieder auf seinen Kern besinnen.
Wenn heute Mittag um Punkt zwölf der eigentlich nur wenig charismatische Münchner SPD-Oberbürgermeister Dieter Reiter seinen Zapfhahn mit wuchtigen Hammerschlägen ins erste Bierfass treibt, werden wie jedes Jahr frenetische Jubelrufe aus Tausenden von Kehlen durchs Festzelt schallen.
In unbändiger Vorfreude heißt es dann allenthalben wieder „Heil Hitler!“, nein, Quatsch, das dann doch noch nicht, sondern vielmehr „O’zapft is!“, und man könnte schlechterdings annehmen, dass auf der Münchner Theresienwiese auch sonst alles seinen urgemütlichen Lauf nimmt wie schon seit Menschengedenken. Aber weit gefehlt! Die Welt ist im Wandel, mancherorts bereits aus den Fugen, und die unheilvolle Dynamik der entfesselten Moderne macht selbst vor dem hartnäckigsten Volksfest des Planeten keinen Halt.
Die Wiesn ist in der Krisn, die nackten Fakten sprechen eine undeutliche, aber eindeutige Sprache (nämlich Bairisch). Seit 2011 ist die jährliche Besucherzahl stetig zurückgegangen, der Bierdurst nach einem letzten Aufbäumen im Jahr 2015 rapide im Schwinden begriffen. Im Schnitt goss sich jeder Gast zuletzt nur etwas mehr als eine Mass in den Schädel, also weniger als einen Liter Bier! Das reicht kaum für einen federleichten Schwips, wie jedermann weiß. Damit ist das große Versprechen des Münchner Oktoberfests – tagelanger Vollrausch bis zur Bewusstlosigkeit und Rekonvaleszenz im Sanitätszelt – so gut wie ruiniert.
Erneut droht also ein liebenswertes Stück Tradition wegzubrechen. Über Jahrzehnte hinweg galt die Wiesn als das härteste Volksfest unter Gottes Himmel, das krasseste Massenbesäufnis der Welt, das größte Suizidkommando, seit es Polizei und Staatsanwaltschaft gibt. Bis zu sieben Millionen Feierwütiger aus aller Damen und Herren Länder kamen hier alljährlich zusammen, Engländer, Italiener, Australier, teils sogar Chinesen, um Mass für Mass zu stemmen, Butterbrezn, Brathendl und Steckerlfisch wegzuknuspern und sich schon tagsüber so richtig sternhagelblau danebenzubenehmen.
Schwindel im Schutz des Biernebels
Das entgrenzte Amüsement inner- und außerhalb der Festzelte nahm dabei vielerlei Formen an – gasförmig, fest, flüssig oder alles zugleich. Im Schutz des dichten Biernebels sang und schunkelte man, bis einen ein rechtschaffener Schwindel von der Bierbank warf, vielleicht auch das Gewicht der verzehrten Schweinshaxe mit Sauerkraut oder der übermütige Sitznachbar. Aufgepeitscht von den aphrodisierenden Hymnen der Festkapellen („Anton aus Tirol“, „Die Hände zum Himmel“, „Skandal im Sperrbezirk“) wurden zünftige Techtelmechtel in Angriff genommen, brünftige Ehen angebahnt und künftige Vaterschaftsklagen vorbereitet.
Auch wenn sich anderntags kaum jemand erinnern konnte, sorgte stets ein überwältigender Gemeinschaftsgeist für das einzigartige Oktoberfestgefühl. Gemeinsam wurde gefeiert, gefummelt und gerauft. Gemeinsam wurden Bierkrüge geschwungen und Platzwunden behandelt. Gemeinsam wurde stundenlang an den Urinalen angestanden, auf den Rasen gespien und anschließend auf der Komawiese der Rausch ausgeschlafen – jedenfalls, wenn man es nicht bis ins Sanitätszelt geschafft hatte.
Doch nun, nach über 200 feuchtfröhlichen Jahren, sitzt das Oktoberfest augenscheinlich auf dem Trockenen. Ängstlich klammern sich kulturbeflissene Touristen an ihrem Radler fest, während Mittelschichtsfamilien mit kreischenden Kindern von Fahrgeschäft zu Fahrgeschäft spazieren. Statt der pittoresken Bierleichen, die einst zuhauf an den Festzeltwänden lehnten, prägen Freiluft-Yogagruppen das Bild zwischen Riesenrad und Bavaria. Die früher so überschäumende Stimmung ist der trübsinnigen Atmosphäre eines Temperenzlertreffens am Wasserbrunnen gewichen.
Die Gründe für diesen beispiellosen Abstieg sind zahlreich und liegen tief. Dabei dürften die vielgeschmähten Preise, die inzwischen für eine Mass des würzigen Festbiers aufgerufen werden, noch die geringste Rolle spielen. Zwar kann man für die elf bis zwölf Euro, die der Literkrug diesjährig kostet, im Supermarkt dreißig Halbliterdosen Exportbier erstehen, aber die muss man auch erst einmal runterkriegen wollen. An genau diesem eisernen Willen zur erbarmungslosen Selbstzerstörung jedoch scheint es dem Kernpublikum der Wiesn zusehends zu mangeln. Gesundheitsfetischismus und Selbstoptimierungswahn haben das Regiment übernommen und das Oktoberfest zur x-beliebigen Herbstkirmes mit folkloristischer Garnitur degradiert.
Dass die lokalen Brauchtümer nämlich keineswegs eigen und unverwechselbar sind, sondern sich problemlos klonen und in alle Winkel Deutschlands exportieren lassen, zeigen die vielen Tausend Oktoberfeste, die mittlerweile zwischen Sylt, Freiburg, Aachen und Görlitz gefeiert werden. Was hätte man früher über ein Oktoberfest in der Hamburger Fischauktionshalle gelacht! Wie hätte man sich darüber beömmelt, wenn in bayerische Trachten gewandete Hanseaten zur Blasmusik von „Ein Prosit der Gemütlichkeit“ ein Bierfass nach Münchner Ritual anstechen und stocksteif bajuwarische Lebensart nachzuspielen versuchen!
In jeder Fußgängerzone ein Bierrondell
Inzwischen jedoch wird im späten September noch in der kleinsten Fußgängerzone des Ruhrgebiets ein Bierrondell mit ein paar Bänken aufgestellt, damit die örtlichen Nichtsnutze unter wehender blauweißer Raute ihr eigenes synthetisches Oktoberfest feiern können. Um ausschweifenden Bierkonsum geht es dort schon lange nicht mehr, sondern um kulturelle Enteignung. Nicht mehr nur die verblödete Schickeria kreuzt in Dirndl, Lederhosen und Haferlschuhen auf, sondern dank Lidl und Aldi jeder. Trachtenjacken, Dirndl-Sets und Wadlstrümpfe gibt es neuerdings auch beim Discounter, und zwar zu Preisen, die jeden Widerstand gegen den Mummenschanz zwecklos erscheinen lassen.
Bilder der Woche
In dieser Inflationierung und Karnevalisierung kann man den gewichtigsten Grund für den absehbaren Ruin der Münchner Wiesn sehen. Das Oktoberfest wurde zum Opfer seines eigenen Erfolgs. Vielleicht ist es kein Zufall, dass dieser Niedergang zeitlich mit dem Zerfall des CSU-Regimes in Bayern zusammenfällt. So wie diese Partei überflüssig geworden ist, seit fast jeder ihre reaktionären Positionen teilt, wurde auch das Münchner Oktoberfest durch seine aufdringliche Allgegenwart obsolet.
Eine Woche nach Ende der diesjährigen Wiesn finden die bayrischen Landtagswahlen statt, bei denen nach allgemeinem Dafürhalten die Christsozialen eine gewaltige Klatsche einstecken und ihre Alleinherrschaft einbüßen werden. Mag sein, dass die Revolution, die dies für Bayern bedeutet, auch das Oktoberfest mit in den Abgrund reißt. Womöglich muss sich das Fest aber einfach nur wieder auf seinen Kern besinnen: das Saufen. Es sollte sich jedenfalls niemand wundern, wenn es demnächst heißt: „Herrgottsakra! Die Mass ist schon wieder billiger geworden!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind