Die Wahrheit: Im Wurmloch zum Lindwurm
Neue erhellende Erkundigungen im zeitlos dunklen Bayreuth während der jetzt endenden Festspielzeit.
Es ist ganz und gar übertrieben, zu behaupten, Richard Wagner dominiere Bayreuth. An jeder Ecke gedenkt man hier des Dichters Jean Paul, es gibt ein Franz-Liszt-Museum, man ehrt die Markgräfin Wilhelmine, und der Supermarkt ist sogar nach einer Oper von Vincenzo Bellini benannt: „Norma“. Das heißeste Asservat, welches die Stadt gerade bereithält, ist eine Oktavausgabe der Autos Sacramentales von Calderón aus dem Jahre 1655, welche auch das „Gran teatro del mundo“ enthält. Wer hätte diesen kleinen Schlingel von Buch nicht gern in seiner Bibliothek?
Auch wer argwöhnt, das Publikum der Bayreuther Festspiele sei elitär, kann beruhigt werden; mit dem europäischen Hochadel und der internationalen Boheme, die vor dem Ersten Weltkrieg bei den Festspielen einander begegneten, haben die heutigen Besucher nur die Eintrittskarten gemein. Da man acht Jahre auf Karten wartet, kann sich jedermann in dieser Zeit das Geld zusammensparen. Man glaubt sich geradezu in Salzburg, denn man sieht „Je… der… mann …!“
Bildung, Manieren und Eleganz sind heute eine weit bessere Investition als zu Zeiten des amerikanischen Ökonomen Thorstein Veblen, der 1899 seine „Theorie der feinen Leute“ veröffentlichte; damals wären Sie mit alldem bei einer Bayreuther Premiere gar nicht aufgefallen, heute sind Sie beinah die einzige Kraft. Als gebildeter, eleganter Mensch mit Manieren haben Sie heute ein uneinholbares Alleinstellungsmerkmal.
Eingeborene in Tarnkappen
Da niemand freiwillig nach Bayreuth fährt, hat auch die oberfränkische Stadt ein Alleinstellungsmerkmal: keine Touristen! Wenn Ihnen also Nibelungen in Tarnkappen, kurzen Hosen und weißen Socken entgegenkommen, sind das Eingeborene. Außer „Frrrängisch“ spricht man hier auch Preußisch, was das ewige „Hallo!“ erklärt, als befinde man sich nicht in Deutschland, sondern am Telefon.
Im August ist Bayreuth deutsche Hauptstadt; München im Urlaub. Das Wichtigste in Bayreuth sind erstens die Würste, zweitens das Maiselbier, drittens das markgräfliche barocke Opernhaus, viertens meinetwegen Richard Wagner. Der Komponist hat nämlich auch hier gewohnt. Aus seinem Wohnhaus, Wahnfried genannt, ward jetzt ein Museum mit einer Krypta, in der die „Lohengrin“-Partitur aufgebahrt ist. Die Architektur dieses geistigen Untergeschosses hält die Waage zwischen Gruft und Volkshochschule.
Auch ein Kino gibt es dort. Täglich spielt man den Modell-„Tristan“ von 1983 mit René Kollo in der Titelrolle, Daniel Barenboim als Kapellmeister und Jean-Pierre Ponnelle als Regisseur und Ausstatter. Leider bricht der Vorführer die Vorführung immer kurz vor Aktschluss ab. Was Stalin mit einem solchen Filmvorführer gemacht hätte, kann man sich auch denken, wenn man die britische Filmkomödie „Der innere Kreis“ nicht gesehen haben sollte. Zur Beantwortung einfacher wissenschaftlicher Anfragen ist das Wahnfried-Museum ebenfalls außerstande.
Das Festspielhaus selbst ist ein Holzhaus mit Klappsitzen. Eine Holzblende verdeckt das Orchester. Als Richard Wagner die ersten Inszenierungen hier sah, sagte er: „Schade, dass ich nicht auch die verdeckte Bühne erfunden habe!“
Mitten im Krieg
Die Dauer eines Werkes wie des „Ring des Nibelungen“ beträgt lediglich 16 Stunden. In Wagners „Ring“ werden Sie in einem Raum-Zeit-Diskontinuum direkt in die Welt unserer Ahnen katapultiert. Wenn der Vorhang sich zum ersten Aufzug der „Walküre“ hebt und Siegmund durch den Wald zu einer Hütte flieht, sind Sie mitten in jenem kriegerischen Leben angekommen, dessen Erinnerung man Ihnen bei Ihrer Erziehung mit allen Mitteln austreiben wollte: „Zum Kampf kies ich den Tag: / für Tote zahlst du mir Zoll.“
So war einst unsere germanische Welt, so ist sie, und so wird sie sein. Wenige kammermusikalische Töne aus der Szene zwischen Hunding, Sieglinde und Siegmund genügen. Sofort wissen Sie, Sie sind wieder dort, von wo man Sie vor über tausend Jahren vertrieben hat.
Es gefällt es Ihnen nicht im Wald bei den Kämpfern? Glauben Sie mir, Sie sind das, es ist in Ihnen!
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