Die Wahrheit: Unter Krötenküssern
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (41): Die extremste Form der Amphibienliebhaberei ist nicht ganz ungefährlich.
Das Krötenküssen ist die extremste Form der Amphibienliebhaberei – und es ist nicht ganz ungefährlich, denn es gibt giftige Kröten und solche, deren Schleim halluzinogene Wirkungen hervorruft. Bisher kannte man eigentlich nur einen Krötenküsser: den Biologen Paul Kammerer. Von 1902 bis 1926 experimentierte er in der Biologischen Versuchsanstalt im Wiener Prater mit Amphibien, um den (lamarckistischen) Nachweis zu führen, dass sich Erfahrungen vererben können. Weil er dabei unter anderem mit Geburtshelferkröten experimentierte und einmal im Garten einer Verehrerin auf eine solche, durchaus seltene Kröte stieß, die er erfreut hochnahm und küsste, nannte Arthur Koestler seine Biografie über Kammerer „Der Krötenküsser“.
Koestler versuchte darin 1971, Paul Kammerer als Wissenschaftler zu rehabilitieren. Diesem war vom darwinistischen Zentralorgan Nature vorgeworfen worden, dass die Präparate der Brunftschwielen seiner Geburtshelferkröten mit Farbstoff nachgebessert wurden. Unbeeindruckt von diesem angelsächsischen Wissenschaftsskandal 1926 bot die Sowjetunion, namentlich die lamarckistischen Biologen um Boris Kusin und den Dichter Ossip Mandelstam, Kammerer ein eigenes Institut in Moskau an. Der international gefeierte, durch den Fälschungsvorwurf jedoch entehrte Amphibienforscher zog es vor, sich im Wiener Wald zu erschießen. Der sowjetische Volkskommissar für das Bildungswesen, Anatoli Lunatscharski, und seine Frau, eine Schauspielerin, drehten daraufhin mit Geldern aus der deutschen Arbeiterbewegung einen Spielfilm über Kammerer: „Salamandra“ – in dem der geniale Biologe von Darwinisten und Jesuiten in den Selbstmord getrieben, jedoch im letzten Moment von Lunatscharski persönlich gerettet und in die Sowjetunion entführt wird, wo er frei forschen kann und dafür vom Staat alle Unterstützung bekommt. Der Film wurde in Deutschland verboten.
2016 versuchte der Wiener Wissenschaftsjournalist Klaus Taschwer Kammerer erneut zu rehabilitieren – in einem Buch mit dem Titel „Der Fall Paul Kammerer. Das abenteuerliche Leben des umstrittensten Biologen seiner Zeit“. Sechs Jahre zuvor hatte Taschwer bereits zusammen mit dem Berliner Lamarckismusforscher Peter Berz die Kammerer-Biografie von Koestler „Der Krötenküsser“ neu herausgegeben. Zuletzt, 2017, veröffentlichte er auch noch eine kurze Geschichte der Biologischen Versuchsanstalt im Wiener Prater, die – von jüdischen Wissenschaftlern initiiert und finanziert – mit dem Einzug der Nazis in Österreich für immer abgewickelt worden war: „Experimentalbiologie im Wiener Prater“.
Er küsste seine Kröten und liebte sie zärtlich
Der zweite „Krötenküsser“, Otto Marseus van Schrieck, lebte von 1619 bis 1678 in Holland und arbeitete als Maler im Umfeld der Naturforscher der Universität Leiden. Van Schrieck gilt als Erfinder der „Waldbodenstilllebenmalerei“, das heißt, er malte Pflanzen und Blumen „nach der Natur“, dazu Libellen, Schmetterlinge, Eidechsen, Schlangen und Kröten, daneben aber auch eine Serie „Waldbodenstillleben mit Pilzen“. Sein größtes Bild – von einer Distel – animierte eine Reihe seiner malenden Zeitgenossen, ebenfalls Disteln zu porträtieren. Van Schrieck wirkte im „Goldenen Zeitalter“ der Niederlande stilbildend. Soeben widmete das Schweriner Museum ihm und seinen naturforschenden Freunden, darunter den Erfinder des Mikroskops, Johannes Hudde, eine große Ausstellung: „Die Menagerie der Medusa“, mit Bildern und von van Schrieck herausgegebenen Büchern aus ganz Europa.
Der Philosoph André de Graindorge schrieb 1665 über van Schrieck: „Er hielt Eidechsen, Kröten und tausend andere hässliche Tier. Es war seine Freude, sie zu beobachten, und er malte sie in vorzüglicher Weise. Er küsste seine Kröten und liebte sie zärtlich.“ Der Maler Arnold Houbraken, der ihn porträtierte, berichtete 1718: „Er hielt die Thiere in einer Niederung vor Amsterdam, fütterte sie täglich, und hatte auch hinter seinem Haus einen Winkel, wo sie ihm stets bei seiner Arbeit zur Hand waren. Einige dieser Schlangen gewöhnten sich mit der Zeit so sehr an ihn, dass er sie, wenn er sie malen wollte, mit seinem Malerstocke so stellten konnte, wie er sie eben nöthig hatte, und dass sie liegen blieben, bis sie gemalt waren.“ Der Dichter und Sanduhrmacher Jan Vos reimte: „Durchreiste ganz Europa, doch Malta ließ er liegen. / Warum wagt’ er es nicht, nach diesem Land zu reisen?/ Dieweil auf jenem Grund kein’ Schlangen können leben.“ Zur Ausstellung gehört ein üppiger Katalog; darin heißt es über van Schriecks Bild „Waldboden mit blauen Winden und Kröte“, das in Rembrandt’scher Manier durch Hell-dunkel-Kontraste besticht: „Die Beleuchtung gleicht einem Scheinwerfer, der mit klarer Genauigkeit bestimmte Dinge herausgreift. Zentrales Bildelement ist eine voluminöse Kröte, die lebensgroß in der Mitte des Bildes hockt. Sie ist im Begriff, mit der hervorschießenden Zunge einen Falter in ihr Maul zu ziehen.“ Als „Gegenpol“ befinden sich über ihr blaue Blüten einer Windenranke – mit Raupen und Schmetterlingen, einer ist ein Schwalbenschwanz. „Die Winde zählt nicht zu den Futterpflanzen des Schwalbenschwanzes, wohl aber dient sie der Raupe des Windenschwärmers, eines Nachtfalters, zur Speise, die unter der zentralen Blüte kriecht. Vielleicht verschlingt die Kröte soeben den erwachsenen Falter, der sonst nicht zu sehen ist.“
Kampf der Seele zwischen Tugend und Laster
Die Kunsthistorikerin Karin Leonhard erklärte dazu: „Im gegenreformatorischen Rom des 17. Jahrhunderts will man diese Naturgeschichten auch heilsgeschichtlich deuten, nämlich im Sinne einer ‚psychomachia‘ – als Kampf der Seele zwischen Tugend und Laster, oder allgemeiner: zwischen Polaritäten wie Tag und Nacht, Helligkeit und Dunkelheit, Geist und Materie. […] Die Kröte verkörpert seit der griechischen Antike das Element der Erde und dann ab dem 16. Jahrhundert, vor allem in der alchemistischen Lesart, das schwere Metall Blei. Da die Materie zum Großen Werk nur im Mineralreich zu finden ist und deshalb Blei in Gold verwandelt werden muss, erscheint die sich aus Schlamm nährende Kröte als anschauliche Ausgangssituation jeder alchemistischen Transmutation. Innerhalb des hermetischen Vokabulars gelten Schlange und vor allem die Kröte als symbolische Repräsentation des Verwesungsvorgangs und der Regenerierung von Materie aus der Fäulnis.“
Das „Krötenküssen“ könnte man demnach als Verfahren deuten, in dem der Künstler sich als Naturwissenschaftler mit seinem Forschungsobjekt „innigst identisch macht“, sich in einen Empathieträger verwandelt. Im Gegensatz zu Märchen, in denen jemand angeekelt einen Frosch küsst – den er dabei jedoch zu einem Sympathieträger entzaubert und damit eine Beziehung zu ihm aufnimmt. Das „Krötenküssen“ steht dagegen nicht am Anfang, sondern am Ende einer langwierigen Arbeit am Objekt, die diesem, wenigstens für den Moment, einen Subjektstatus zuerkennt.
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