Die Wahrheit: Omas Stinkefinger
Immer mehr Alte sind mit ihrem E-Bike unterwegs und machen unsere Innenstädte oder Naherholungsgebiete mit ihrem Pedelec unsicher.
In einer Reihenhaussiedlung in Münster schellt es an der Haustür der dreifachen Mutter und Sanitärfachverkäuferin Marlene Weber, als sie gerade den Abwasch erledigt und überlegt, ob sie sich noch die Nägel macht, bevor die Kinder nach Hause kommen. Frau Weber öffnet die Tür und bekommt große Augen. Vor ihr steht die Oma mit selbstgebackenen Windbeuteln. Denn Oma ist jetzt wieder mobil. Oma hat ein E-Bike, sie muss nicht mehr besucht werden. Sie besucht selbst und bringt Kuchen und viel Zeit mit. Vor Schreck lässt Frau Weber das gute Porzellan fallen und kann nur nach ihrem Mann schreien.
Viele junge Menschen lassen momentan das Geschirr fallen. Waren Großeltern bis vor wenigen Jahren aus dem gesellschaftlichen Leben aufgrund eingeschränkter Mobilität erfolgreich ausgeklammert, so muss jetzt nicht nur Frau Weber umdenken. Den Führerschein konnte man den Alten wegnehmen, den öffentlichen Nahverkehr unbezahlbar machen, die Seniorenheime nach Polen und Tschechien auslagern. Das E-Bike jedoch bringt die Altvordern wieder auf die Straße zurück. Nicht nur sonntags stehen sie mit Kuchenteilchen und Hühnersuppe vor den Türen der Verwandtschaft oder zwingen ihre Nachkommen, gemeinsam mit ihnen einen schönen Ausflug zu machen.
Denn diese Alten haben nichts mehr mit den Omas und Opas zu tun, die man aus dem Wartezimmer beim Arzt kannte und deren Gesprächen über Stuhlgang und Prostata man zwischen Lesezirkel und Medizini-Heftchen lauschte. Die neue Generation der Senioren ist alt, reich und rotzfrech und beherrscht längst die Innenstädte.
Die greisen Elektroradler zeigen den Jungen den knochigen Stinkefinger, wenn sie mit ihren Edel-Choppern an ihnen vorbeiziehen, und während der Nachwuchs im alten Diesel am Berg verreckt, sausen die Grauköpfe mit ihrem Lithium-Akku-Antrieb lächelnd vorbei.
Kaufte man sich früher für ein paar Mark eine alte „Zweirad-Möhre“ auf dem Flohmarkt, kosten Fahrräder mittlerweile mehr als ein Kleinwagen. Ein Student oder Auszubildender kann sich diese teuren Zweiräder selbstverständlich nicht leisten. „Die neue Generation Edel-Bikes ist mit Bordcomputer, Navigator und einem Ultra-Modus für Extra-Beschleunigung ausgerüstet. Die Preise starten bei etwa 4.500 Euro. Da ist das Fahrrad aber noch nackt. Mit allem Zubehör kann das Smart Bike schnell die 10.000-Euro-Grenze sprengen“, erklärt ein ADFC-Mitarbeiter.
Zahlungskräftige Zausel
Die Zielgruppe für diese neuen, smarten E-Bikes sind die zahlungskräftigen Alten. Der gegenwärtige Typ Fahrradfahrer ist nicht jung, sportlich und wild. Vielmehr heißt er Eberhard oder Elisabeth, ist sechsundachtzig und möchte trotz Bandscheibenvorfall und Gicht die volle Tüte Leben und Mobilität.
Längst hat sich die Bike-Branche auf die neue Kundschaft eingestellt: Die Displays am Fahrrad bieten nicht nur drahtlose Smartphone-Konnektivität über den Bluetooth 4.0-Standard, sondern zeigen auch den Weg zur nächsten Konditor ganz automatisch in Großdruck an. Und die neuen E-Bike-Hosen mit Protektoren, bei der beigefarbene Eleganz auf robusten Schutz trifft, taugen ebenso fürs Free Riding zum Arzt wie zum Downhill-Race zur Schwiegertochter.
Doch hat die moderne Mobilität ihren Preis: Jeder zehnte getötete Fahrradfahrer ist ein Pedelec-Nutzer, und acht von zehn Unfalltoten sind älter als 65 Jahre. Und die Zahlen steigen mit jedem verkauften E-Bike. Auch diese Fakten sollte man kennen, wenn man über die aktuelle Seniorenplage in den Innenstädten und Naherholungsgebieten flucht.
Das Problem wird sich also mit der Zeit von selbst lösen. Doch bis dahin muss Marlene Weber noch einige Male die Oma unangemeldet ertragen – wenngleich die Besuche jetzt deutlich kürzer ausfallen. Oma düst nämlich längst schon wieder weiter zum nächsten Enkelkind …
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