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Die WahrheitDer bissige Graf

Kolumne
von Joachim Schulz

Ahtmann war unbestritten der bedeutendste lebende Vampir-Darsteller. Doch was geschah bei der Premiere und wo steckte er seither?

Z um letzten Mal begegnete ich Ahtmann im Winter des Jahres 99. Er stand plötzlich vor meiner Tür und erzählte mir, dass er die Rolle des Vampirgehilfen Igor in Cromms „Dracula“-Dramatisierung übernommen hatte. „Bist du irre?“, sagte ich: „Du als Hilfsvampir bei Cromm?“ Ahtmann war unbestritten der bedeutendste lebende Vampir-Darsteller. Cromm hingegen, erster Schauspieler und Intendant auf Lebenszeit an unserem bedauernswerten Stadttheater, hatte bisher noch jedes Stück zugrunde gerichtet. Doch Ahtmann grinste nur und nippte an dem schwarzen Kaffee, den er wie immer leicht gesalzen zu sich nahm.

Ich verpasste die Premie­re wegen eines Rendezvous, und später gingen die Meinungen über die Ereignisse auf der Bühne weit auseinander. Die Lokalpostille, Hausblatt des Cromm-Fanclubs, berichtete, dass Ahtmann dem geliebten Intendanten gleich zu Beginn von Draculas erstem großen Monolog unter wölfischem Geheul an die Kehle gesprungen sei und eine klaffende Wunde zugefügt habe. „Sodann“, Zitat Lokalpostille, „entfloh der Mordbube hechelnd und auf allen vieren.“

Die Mehrzahl der Abonnenten hingegen schwor, dass eine Schar Fledermäuse in den Saal eingedrungen sei, sich, von Ahtmann dirigiert, auf den Intendanten gestürzt habe und, begleitet von dem nun gleichfalls im Fledermauskostüm herumflatternden Ahtmann, im Dunkel des Schnürbodens verschwunden sei.

Mitglieder der „Theaterfreunde Minna von Barnhelm“ schließlich wollen gesehen haben, dass der echte Graf D. aus einem Schrank getreten sei, seinen violetten Frackumhang aufgeschlagen und Cromm die Halswunde zugefügt habe, um dann mit dem irre kichernden Ahtmann durch eine Falltür in die Unterwelt abzutauchen.

Ahtmann jedenfalls spielte in allen Schilderungen eine zentrale Rolle, und daher war es kein Wunder, dass tags drauf zwei schnauzbärtige Kriminalkommissare bei mir auftauchten und mich als alten Ahtmann-Komplicen fragten, ob ich einen violetten Frackumhang besäße, und vor einem Spiegel kontrollierten, ob mein Spiegelbild akkurat sei.

Cromm erholte sich erstaunlich schnell. Die Wunde am Hals verheilte binnen weniger Tage, und er kehrte auf die Bühne zurück. Allerdings brauchte bloß jemand im Zuschauerraum ein violettes Taschentuch zu entfalten, um ihn aus seinen quälenden Monologen aufzuschrecken: Plötzlich schoss er wie ein Derwisch über die Bühne und gab der Handlung eine ganz neue, bizarre Wendung – selbst sein sterbensöder „Wallenstein“ wurde so noch ein dadaistisches Spektakel.

Insofern stellte man die Ermittlungen gegen Ahtmann vorzeitig ein und hätte ihm gern die Ehrenbürgerschaft verliehen. Doch Ahtmann blieb verschwunden, und wenn man den Gerüchten glauben will, hat er in einem dunklen Gemäuer in den Karpaten ein neues Zuhause bezogen und trinkt Abend für Abend mit dem Schlossherrn leicht gesalzenen Mokka aus güldenen Pokalen.

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