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Die WahrheitDie Eroberung von Krusaria

Kolumne
von Joachim Schulz

Es war kein verregneter, kühler Sommer, es war glühend heiß und staubtrocken, als in der Stadt auf einmal die Wundersamen ihr Unwesen trieben …

D ass die Dichte der Irren in unserer Stadt besonders hoch ist, wurde niemals deutlicher als im letzten glühend staubtrockenen Sommer. Wochenlang hatten Wolken und Gewitter einen Bogen um unsere durstige Wüstensiedlung gemacht, sodass das Wasser des Flusses immer brauner und öliger wurde und schließlich eine Insel freigab: Sie war schlammig und klein, aber allemal groß genug, um unsere Wundersamen auf dumme Gedanken zu bringen.

Bald schon stand eine schief zusammengenagelte Bretterbude am nördlichen Zipfel der Insel, in der Norbert, der Stadtindianer, hauste. Mit Hilfe einer Flaschenpost, die er kurzerhand ans andere Ufer hinüberwarf, erklärte er, dass Robinson Crusoe ihm im Traum erschienen sei und den Auftrag gegeben habe, die Insel in seinem Namen in Besitz zu nehmen und die Sozialistische Republik Krusaria auszurufen. „Jeder“, so die Flaschenpost weiter, „der sein Vermögen der guten und gerechten Sache widmen will und freie Liebe klasse findet, ist eingeladen, seinen Pass wegzuschmeißen und Bürger Krusarias zu werden. Vor allem junge hübsche Frauen.“

Auf junge Frauen wartete er vergeblich, dafür befand sich am nächsten Morgen auch am südlichen Ende der Insel eine Hütte. Vor ihr stand Philosophen-Tony, der Tag für Tag stundenlang durch die Stadt wanderte und dabei lauthals über den Weltgeist, den Leviathan und „Onti, das Ontum“ räsonierte, weil er sich abwechselnd für Hegel, Hobbes oder Hei­degger hielt. Jetzt aber erklärte er, dass Christoph Kolumbus, also er selbst, dieses Eiland eindeutig als versprengten Teil des amerikanischen Kontinents identifiziert habe und, als legitimer Herrscher desselben, zuallererst verfüge, dass alle sozialistischen Traumtänzer mit einem Hang zu promisker Lebensführung sich unverzüglich verpissen sollten.

Natürlich ließ Norbert sich derlei von einem stadtbekannten Verrückten nicht bieten, und so kam es erst zu gegenseitigen Verwünschungen und dann zu einem langen, zähen Ringkampf um die Inselmacht. Zugleich eröffneten am Ufer die ersten Bratwurstbuden, ein älterer Herr verlieh rostige Operngläser zu Wucherpreisen und ein geschäftstüchtiger Dreikäsehoch bot Inselumrundungen auf einer Luftmatratze an.

Ein paar Schritte weiter gab ein Vollbartträger in einer seemännischen Fantasieuniform einem Fernsehteam ein Interview, in dem er behauptete, dass er, Käpt’n Nemo, gleich nach Atlantis übersetzen, dem unwürdigen Schauspiel ein Ende machen und die zwei Schlammcatcher ins Meer werfen werde.

Als schließlich auch noch ein Typ in einer Lokomotivführerkluft auftauchte, ein abgewracktes Tretboot klarmachte und aus einem Radiorecorder lautstark das Lummerlandlied ertönen ließ, entschied ich mich allerdings, nach Hause zu gehen und noch mal ernsthaft darüber nachzudenken, ob ich meine Zelte in dieser Stadt nicht abbrechen und irgendwo anders unter ganz normalen Leuten leben sollte. Man hat ja auch einen Ruf zu verlieren.

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