Die Wahrheit: Im Milieu der Monster
Teil 34 unserer Serie „Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung“ beschäftigt sich ausnahmsweise mit einer Pflanze: dem Löwenmaul.
Das Löwenmaul ist keine Schnauze eines Löwen, sondern eine Modellpflanze zur Erforschung der Blütenentwicklung. Den mit ihr im 20. Jahrhundert experimentierenden Botanikern im Kaiser-Wilhelm-Institut für Kulturpflanzenzüchtung in Müncheberg erschloss das Löwenmaul die Idee der „Rassenhygiene“, der „Eugenik“ und des „Nationalsozialismus“, indem sie als Genetik-Pioniere ihre biologischen Erkenntnisse auf die Gesellschaft übertrugen, die sich nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg daran machte, sich selbst biologisch „neu zu erfinden“.
In Müncheberg trieb dies der Gründer des Instituts, Erwin Baur, voran, danach forschte sein Schüler Hans Stubbe am Löwenmaul weiter. Nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg rettete er seine genetische Forschung gegen die sowjetische „proletarische Biologie“ in die DDR rüber, und brachte es schließlich mit seinem „Institut für Kulturpflanzenforschung“ in Gatersleben zum obersten DDR-Biologen.
Indem Stubbe keimfähige Pollenkörper des Löwenmauls mit Röntgenstrahlen beschoss, wollte er künstlich Mutationen erzeugen, wobei er davon ausging, dass dessen erheblich von den normalen abweichenden „pelorischen Blüten“, die bereits sein Doktorvater Baur beforschte, durch Genmutation entstehen. 1934 berichtete er in der Zeitschrift Die Naturwissenschaften über „Entwicklung und Stand der Mutationsforschung in der Gattung Antirrhinum majus“ – Garten-Löwenmaul.
Eine Kollegin von Stubbe in Müncheberg, die Genetikerin Gerta von Ubisch, kam wenig später als Jüdin im Exil zu der Einsicht: „Leider ist nicht zu leugnen, dass die große Popularisierung der Genetik durch Baur mit zu dem katastrophalen Mißbrauch beigetragen hat, den der Nationalsozialismus mit der Rassenfrage getrieben hat.“
Das Löwenmaul gilt inzwischen ironischerweise als ein Paradebeispiel für Mutationsbildungen, die – ebenso wie der Nationalsozialismus – gerade nicht genetisch entstehen. Schon Linné, der „Ordnung in die Natur“ bringen wollte, kannte eine mit den Löwenmäulern verwandte Pflanze, das Leinkraut, bei der ebenso „scheinbar aus dem Nichts abweichende Blütengestalten auftauchten“, wie der Biologe Bernhard Kegel in seinem Buch „Epigenetik“ (2009) schreibt. Linné nannte die Abweichler „Peloria“ (Monster auf griechisch), die ihm nicht weniger fantastisch dünkten, „wie wenn eine Kuh ein Kalb mit Wolfskopf zur Welt brächte“.
Der einflussreiche Naturforscher Ernst Mayr war beeindruckt (in: „Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt“ 1984), „dass Linné bereits das Auftreten einer auffälligen Mutation (wie Peloria) kannte, die in den nachfolgenden Generationen unverändert bleibt und doch mit der Eltern-'Art‘ kreuzbar ist. Botaniker und Gärtner fanden später viele Fälle, die Linnés Peloria ähnelten, indem plötzlich ein stark abweichender Typus auftrat. Linné kam dahin, daß ‚diese neue Pflanze sich mit ihrem eigenen Samen fortpflanzt und daher eine neue Art ist, die es zu Anbeginn der Welt nicht gab‘. Mehr noch: Nach Linnes Klassifikations-Methode war Peloria nicht bloß eine neue Art oder Gattung, sondern eine völlig verschiedene Blumen-Klasse. Dies erschütterte nicht nur seine Auffassung von der Konstanz der Arten, es schien auch seine Axiome der Klassifikation zu widerlegen.“ Das „Monster“ ließ ihn an seinem christlichen Glauben zweifeln.
Verzweifeln an Gott
Darwin, den dann vor allem das qualvolle Töten von Raupen durch Schlupfwespen an Gott verzweifeln ließ, begeisterte dagegen das Peloriaproblem. In „Die Variation von Tieren und Pflanzen unter Domestikation“ (1868) schrieb er: „Pelorische Rassen wie Löwenmaul können über Samen vermehrt werden, und sie unterscheiden sich auf eine wundervolle Weise von der typischen Form in Struktur und Erscheinung.“
Es ging ihm dabei um die „Vermehrungsweise“: „Es sind nicht die reproduktiven Elemente, auch nicht die Knospen, welche neue Organismen erzeugen, sondern die Zellen selbst durch den ganzen Körper. Diese Annahmen bilden die provisorische Hypothese, welche ich Pangenesis genannt habe … Bei Variationen, welche durch die directe Einwirkung veränderter Lebensbedingungen verursacht werden, … werden die Gewebe des Körpers nach der Theorie der Pangenesis direct durch die neuen Bedingungen afficiert und geben demzufolge modificirte Nachkommen aus, welche mit ihren neuerdings erlangten Eigenthümlichkeiten den Nachkommen überliefert werden.“
Dies Zitat zeigt laut Wikipedia, dass Darwin weit lamarckistischer im Sinne einer Vererbung erworbener Eigenschaften gedacht hat, als ihm das heutzutage zugestanden wird. Konkret äußerte er über das Peloriaphänomen: „Wir müssen davon ausgehen, dass viele Ausdrucksformen, fähig zu evoluieren, in den Organismen verborgen sind. Wir wissen zum Beispiel, dass Pflanzen aus vielen Ordnungen gelegentlich pelorieren.“
Laut Kegel wurde aus Peloria, dem erstaunlichen Einzelfall, mit der Zeit ein ganzer Pelorismus: „Immer mehr Pflanzen wurden entdeckt, mit denen Ähnliches geschah.“ Bei ihrer Erforschung näherte man sich ungewollt der Vermutung, dass sich auch (Umwelt-)Erfahrungen vererben, was in der Mutations-Selektions-Lehre als unmöglich galt. Ironischerweise sind es die Genetiker, die sich nun für diese Vererbungsweise erwärmen (müssen). Bis dahin war sie stets nur von Vertretern der Geistes- und Sozialwissenschaften gegen die darwinistischen Genforscher und Biochemiker ins Feld geführt worden. Um sich nicht ganz von ihrer Sichtweise und ihrem Vokabular zu verabschieden, sprechen die Genetiker nun von „Epigenetik“, was bedeutet, dass sie zwar „das (komplizierte) Leben“ quasi akzeptieren, aber trotzdem weiterhin „lebendige Systeme“ und die „Algorithmen des Lebendigen“ erforschen, bei den Pelorien sprechen sie einstweilen auch noch von „Paramutationen“.
100 Jahre Gen
Im Vorwort seines Buches „Epigenetik“ fragt sich Kegel: „Erleben wir tatsächlich die Wiedergeburt der Lamarck’schen Idee von der Vererbung erworbener Eigenschaften?“ Er erinnert daran, dass der Begriff des „Gen“ 2009 hundert Jahre alt wurde, und dass man ihn gebührend hätte feiern sollen, „denn ob dieser Begriff seinen nächsten runden Geburtstag noch erleben wird, ist fraglich“: Das „genzentrische Weltbild“ war allzu simpel.
„Selbst Craig Venter, vor wenigen Jahren mit seinen Sequenzierrobotern an vorderster Front der biomedizinischen Forschung, muss heute eingestehen: ‚Im Rückblick waren unsere damaligen Annahmen über die Funktionsweise des Genoms dermaßen naiv, dass es fast peinlich ist‘. ‚Wir müssen blind gewesen sein‘, seufzte der Entwicklungsgenetiker Timothy Bestor von der New Yorker Columbia University gegenüber ‚Scientific American‘ angesichts eines ganzen ‚Universums‘ ungeahnter und unerwarteter Phänomene. Über Vererbung und Evolution muss neu und intensiv nachgedacht werden.“
Aber die „Epigenetik“ in den Analysegeräten und Rechnern der etwas ratlosen Genetiker, das ist noch kein „Lamarckismus“ – keine „Milieu-Biologie“: „In diesem Wort ‚Umgebung‘ drängt sich“ laut Heidegger 1946 „alles Rätselhafte des Lebe-Wesens zusammen“.
Der sowjetische Dichter Ossip Mandelstam, der sein Schach von der Literatur auf die Biologie setzte, damit das Spiel ehrlicher werde, schrieb 1930 über eine Fahrt nach Armenien: „Ich weiß nicht, wie es andern ergeht, aber für mich vergrößert sich der Zauber einer Frau, wenn sie eine junge Reisende ist, die in wissenschaftlicher Mission fünf Tage lang im Zug nach Taschkent auf einer harten Bank hat liegen können, die sich gut im Latein Linnés zurechtfindet, die im Streit zwischen Lamarckisten und Epigenetikern weiß, wo sie steht, und etwas übrig hat für Löwenmäuler, Baumwolle oder leichte Melancholie.“
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