Die Wahrheit: Bis zum Wasser im Hals
Was so alles baden geht: Immer neue Protestformen werden entwickelt. Inzwischen dominiert die Kunst moderne Demonstrationen.
Die Landwirtschaft geht baden! Hunderte Bauern sprangen letzten Freitag, nur mit ihren Stiefeln bekleidet, im Berliner Spreebogen in das nasse Element und machten deutlich, dass ihnen durch die sinkenden Erlöse für Milchprodukte das Wasser abgegraben wird. „Mit dieser gelungenen Protestaktion“, so Bauernsprecher Ulkar von Strunzendorff, „unterstreichen wir unsere Kritik an den zu niedrigen Abnahmepreisen der Molkereien, in deren Konsequenz wir unsere Kosten nicht mehr decken können.“
Der Einzelhandel säuft ab! Tausende Ladenbesitzer warfen sich kurz danach, bloß mit ihren Registrierkassen angezogen, ebenfalls im Berliner Spreebogen in die Fluten und bewiesen anschaulich, dass ihre Geschäfte den Bach runtergehen. „Mit dieser originellen Protestaktion“, so Einzelhandelspräsidentin Wiga Kötzle, „bekräftigen wir unsere Forderung nach niedrigen Einkaufspreisen, um die Molkereiprodukte für uns bezahlbar zu halten!“
Das Wasser steht dem Wasser bis zum Hals! Millionen Liter nacktes Wasser wurden nur wenig später gleichfalls im Berliner Spreebogen in den Fluss gekippt, um auf pfiffige Weise die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Verwässerung der Umweltauflagen durch die Industrie zu lenken. „Mit dieser geistreichen Protestaktion“, so Umweltaktivist Okus Blöker, „führen wir vor Augen, dass die Wirtschaftslobbyisten buchstäblich mit allen Wassern gewaschen sind!“
Politik und Kunst verschmelzen
Drei aufsehenerregende Aktionen, die für eine moderne Protestkultur stehen: Politik und Kunst verschmelzen auf fantasievolle Weise, heben die Demokultur auf ein kreatives Level und rütteln die Gesellschaft nachhaltig wach. „Protest als eine neue, zeitnahe Kunstform“ – so beschreibt Ulkar von Strunzendorff das Phänomen, der während seines Studiums der Agrarwissenschaft im Nebenfach Ästhetik und Kommunikation gehört hat.
Demonstrationen, Parolen, Sprechchöre sind ultimativ out. Selbst das Demonstrationsmöbel „Sarg“, mit dem von der Rentenreform bis zu Studiengebühren jahrzehntelang allerlei beerdigt wurde, gilt als „echt abgenudelt und krass ungeil“ und verschwindet aus den Protestaufzügen.
„Das ist old school, einfach voll ekelhaft. Wir sind doch keine Proleten!“, muss sich Wiga Kötzle, die aus einer Lehrerfamilie kommt, echt übergeben. „Unser Protest muss Niveau haben, genau wie wir. Ein bisschen unkonventionell, ein wenig Party. Hauptsache, nicht laaangweilig. Unterhaltung, Spaß, Fun – das ist definitiv unser gebrandeter Markenkern!“
Für Binzi Bürzel, Dozent für Politisches Design an der Hochschule Bielefeld, steht fest, dass Protest ein cooler Event sein muss, um von den Menschen konsumiert werden zu können. Wer protestiert, muss sich deshalb permanent neu erfinden und sich am Markt optimal positionieren, um mit seiner Performance gut aufgestellt zu sein. Den Vorwurf, über den super Formen wären die tollen Inhalte am Ende des Tages schnell vergessen, widerlegt Bürzel total: „Sie haben recht. Aber der Inhalt geht viral!“
Protest auf professioneller Basis
Der von ihm designte Kongress „Protest und Politics“ ist Treffpunkt und Meetingpoint der Organisationen, die hinter den Aktionen stehen und die gesellschaftlichen Gruppen bei der Suche nach dem korrekten künstlerischen Ausdruck für ihren politischen Protest auf professioneller Basis beraten. Epo Wichsler, der sympathische Geschäftsführer von Schöner Rebellieren, benennt das Prinzip: „Nicht sinnlos, sondern sinnlich erfahrbar, so muss Protest!“ „Für Medien und Menschen sexy aufbereitete Kritik, that’s it!“, drängt Aule Pocken nach vorn, die angenehme Leiterin von Kritisch & Kreativ. „Das ist ein absolutes Must. Wir …“ – „… wir“, schubst Igi T. Oschlarch, der menschlich ansprechende Chef von Protest Progressiv sie zur Seite, „sind der Marktführer!“
Er zeigt auf sein Smartphone: Zu sehen sind Fotos nackter Männer, deren Hodensack am Pflaster einer Fußgängerzone festgenagelt ist. „Mit dieser einfallsreichen Aktion“, erläutert Oschlarch, „machte die Pilotengewerkschaft im Lohnkampf klar, dass Nägel mit Köpfen gemacht werden müssen. Sonst bleiben die Flieger am Boden!“
„Plagiat!“, kämpft sich wieder Aule Pocken nach vorn und zückt ihr iPhone: Zu sehen ist eine Pressekonferenz des Luftfahrtunternehmens, dessen Verhandlungsführer mit am Hodensack festgenageltem Portemonnaie beweist, dass ihm die Gehaltsforderungen der Piloten einfach auf den Sack gehen.
Ob der Zusammenhang zwischen Form und Inhalt nicht megawillkürlich sei? Die Frage wischen unisono alle drei Protestexperten vom Tisch: „Hey, in unserer globalisierten, total vernetzten Welt hängt alles mit allem irgendwie zusammen! Got it?!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs