Die Wahrheit: Früher war besser
Bei der Nahrungsaufnahme geht es so verklemmt zu, dass ohne Gleitmittelfunktion possierlicher Zeilen scheinbar nichts mehr rutscht.
M anchmal geht alles sehr schnell. Wo eben noch das Stammcafé war, in dem mit mütterlicher Berliner Schnauze der kulinarisch eher traditionell ausgerichteten Kiezbevölkerung ehrlicher Filterkaffee und cholesterinsatte Spiegeleier serviert wurden, hält plötzlich eine Biobäckerei Einzug und mit ihr alle Zeichen der Dinkelkultur.
Samtige Buttercreme weicht veganem Möhrengeraspel in Roggenmehlstaub; Sachertorte, Sahneschnitten und Bedienungen, die schon alles gesehen haben, werden von trockenem Streuselgebäck und jugendlichem Verkaufspersonal verdrängt, die gemeinsam den Geist des Reinen und Gesunden verströmen. Meine Omma hatte für solche Störungen ihres Umfelds eine einfache Lösung: Einmal ausprobieren und bei Nichtgefallen „Da geh ich jetzt ganz oft nich mehr hin!“
Aber damals gab es noch keine Biobäcker. Heute wird mit perfiden Methoden um die Aufmerksamkeit der Kundschaft gebuhlt und der Bürgersteig heimtückisch von Aufstellern versperrt, die verträumte Passanten unvermittelt mit der Bekanntmachung „Kuchen, das Gemüse für die Seele!“ ausbremsen oder „Fee: Du hast drei Wünsche frei – wähle weise! – „Ike: Käsekuchen. Dreimal bitte!“
Who the fuck is Ike? Ich kenn nur Ike Turner, verlangt der aus dem Jenseits nach Cheesecake? Wir sind in Berlin, dämmert es mir, und es soll wohl „Icke“ heißen, wahrscheinlich musste eine der englischsprachigen Bedienungen die Tafel beschriften, da kann man schon mal übers örtliche Idiom stolpern.
Wer denkt sich diesen Stuss aus? Wird der Bäcker frühmorgens beim Teigwalken von Originalität übermannt? Einer Eingebung folgend konsultiere ich das Internet, und siehe da, ein Tsunami exkulpatorischer Sprüche spült Zusammengeschustertes aus der „Man gönnt sich ja sonst nichts“-Welt nach oben. Egal ob Kaffee trinken, Kuchen essen oder einfach nur pennen – jeder furznormale Genuss wird neckisch zur Sünde erklärt und lustvoll-trotzig wie ein Sieg der Anarchie über die bürgerliche Ordnung gefeiert. „Hatte gerade so verrückte Gedanken: Heute ist das ideale Wetter für Sport! Erst mal ein Stück Kuchen essen! Bin ja völlig neben mir.“
Bei der Nahrungsaufnahme geht es so protestantisch verklemmt zu, dass ohne Gleitmittelfunktion possierlicher Zeilen scheinbar nichts mehr rutscht. Neulich hatte ich einen Albtraum: Ich arbeitete im Großraumbüro und alle Kollegen hatten Becher mit Sprüchen drauf. Ich bekam auch einen, mit „Wer Sahne will, muss Kühe schütteln“. Mir egal, ob die Leute Kuchen oder frittiertes Weinlaub essen, aber ich will von solchem Blech verschont bleiben.
Zwanghafte Leser wie ich, die alles lesen, was ihnen vor die Linse kommt, haben im Alltag eh wenig zu lachen, und bald sind auch noch Bundestagswahlen! Mit Schaudern sehe ich den Originalitätswettbewerben der Plakattexter entgegen, aber dann . . . Hatte gerade so verrückte Gedanken: Wenn’s so weit ist, erst mal was trinken. Bin dann irgendwann völlig neben mir. Und mit viel Glück wach ich erst nach der Wahl wieder auf.
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