Die Wahrheit: Diese Quatschseite!
Die Wahrheit wird 25! Greatest Hits (1): Eine kleine Geschichte der Wahrheit-Seite. Rückblick eines Gründers auf die Jugend- und Flegeljahre.
Die Wahrheit feiert am 25. November 2016 ihren 25. Geburtstag. Aus diesem hohen Anlass wird die Wahrheit in den nächsten Wochen einige ihrer besten Geschichten noch einmal Revue passieren lassen. Den Anfang macht ein Text über die Anfänge der Seite des ersten Wahrheit-Redakteurs Karl Wegmann, der im Jahr 2010 verstarb. Der Text erschien bereits zum zehnten Geburtstag der Seite im Jahr 2001.
Die Wahrheit wurde, wie seit Anbeginn der Zeit und der Zeitungen üblich, unter Schmerzen geboren. Geliebt wurde sie jedoch nur von ihren Eltern. Die meisten tazzler hielten eine satirische Seite schlicht für Papierverschwendung. Witze sollten bitte schön andere machen; man wollte den Platz lieber für weitere 500 Zeilen über „wichtige“ Themen nutzen: Es war die düstere Zeit der Bleiwüsten.
Allen Widerständen zum Trotz wurde die Wahrheit-Seite täglicher Bestandteil der taz. Ihr Überleben war damit jedoch nicht gesichert. Die Auslandsredaktion telefonierte mit ihren Korrespondenten: „Schreibt nicht für diese neue Quatschseite, die wird sowieso wieder abgeschafft.“ Unsere Versuche, Autoren für die täglich erscheinende Kolumne zu rekrutieren, waren dann auch ein gigantischer Flop. „Arbeitsüberlastung“, hieß es hier, „in diesem Land gibt’s nichts Lustiges“, hört man da.
Nur einer fiel aus dem Rahmen: Irland- und Englandkorrespondent Ralf Sotscheck war sofort Feuer und Flamme. „Tolle Idee“, freute er sich, „hier passieren so viele verrückte Sachen, die brauch ich einfach nur aufzuschreiben.“ Fortan schickt er uns jeden Sonntagnachmittag eine dieser herrlichen, absurden, schrulligen Geschichten und schuf sich aus dem Stand heraus eine ständig wachsende Fangemeinde.
Am 25.11.2016 feiern wir im Heimathafen Neukölln in Berlin – Seien Sie dabei.
Die erste Comicstripserie, Lillian Mouslis „Gruselalphabet“ („Alle schauten auf das brennende Haus … außer Klaus, der starrte raus“) stieß hingegen bei einigen Lesern – und auch der Chefredaktion – auf Unverständnis. „Kinderfeindlich“ sei das, „frauenfeindlich“ und „menschenverachtend“. Nachfolger Thomas Körner, kurz ©TOM, ging es mit seinen Strips zunächst nicht anders, „vegetarierfeindlich“ und „sexistisch“, lautete hier das Verdikt.
war Mitbegründer der Wahrheit und Wahrheitklub-Mitglied Nr. 0000000001.
Doch als wir uns am 1. April 1993 auf der Wahrheit-Seite den kleinen Scherz erlaubten, ©TOM wegen dieser Angriffe angeblich verabschieden zu wollen, brach ein Sturm des Protests los. Chefredakteure wurden am Telefon von ©TOM-Fans unflätig beschimpft, die Aboabteilung musste Kündigungsdrohungen abwehren, Faxgeräte liefen heiß, und über hundert empörte Leserbriefe gingen ein – mehr als jemals zuvor auf einen einzelnen Beitrag hin.
Anrufe von Kleintierzüchtern
©TOM blieb selbstverständlich und wurde ein Star. Fast täglich bekamen wir Anrufe von SPD-Ortsgruppen, Kleintierzüchtervereinen, Postlern (die Bundespost war ganz wild auf die Postschalterwitze), Gewerkschaftern und anderen mehr oder weniger illustren Zeitgenossen, die bestimmte Strips nachdrucken wollten. ©TOM war da immer großzügig. Und noch bevor die Touchés als gesammelte Werke erschienen, gab es schon einen Raubdruck mit sämtlichen „Witzbildchen“ des Meisters.
Auch um die „Gurke des Tages“ gab’s Krach. „Ich lese die Wahrheit nie, aber über die Gurke des Tages ärgere ich mich jeden Tag neu“, hatte eine Redakteurin auf einer Vollversammlung erklärt. Damit erntete sie zwar einige Lacher, doch der Chefredakteur zeigte sich beeindruckt und verbot die Gurke. Die Leser griffen erneut zum Telefon und zur Feder – nach zwei Tagen war die Gurke wieder im Blatt.
Bei einem wirklich ernsthaften Versuch, die Wahrheit einzustampfen, erlebte die Antihumorfraktion dann ihre schlimmste Niederlage: Die gesamte taz-Technik, große Teile der Verwaltung und auch eine Handvoll Redakteure stellten sich hinter die Seite. Dieser Triumph wurde leider vom Abgang Mathias Bröckers’, des Wahrheitmachers der ersten Stunde, überschattet. Entnervt von den ständigen Grabenkämpfen warf er (Motto: „Das bisschen, was wir lesen wollen, schreiben wir uns selbst“) das Handtuch und gründete das Hanfhaus.
Die große Stunde der Wahrheit schlug, als die Ergebnisse der ersten Leserumfrage nach Einführung der Seite vorlagen. Die Analyse zeigte, dass die Wahrheit nach der Seite 1 die meistgelesene der taz war. Auf einmal gab’s nur noch Schulterklopfen, alle hatten die Wahrheit ja „immer schon ganz toll“ gefunden. Texte aus dem eigenen Haus zu bekommen, war nun überhaupt kein Problem mehr. Plötzlich wollten alle auf die letzte Seite. Ein neues Problem.
Ein so erfolgreiches Produkt muss unbedingt verbessert werden, dachte sich die wie immer clever agierende Chefredaktion. Täglich lieferte sie Tipps, Anregungen, Belehrungen – und Ermahnungen. „Keine Witze mehr über Alte“, lautete eine Chefdirektive, als eine Leserbriefschreiberin uns „altenfeindlich“ genannt und mit Abokündigung gedroht hatte. Und als wir einmal die berühmte Floskel „Beam me up, Scotty“ verwendeten, schlug der Chef im Lexikon nach, fand „beam“ nicht und verbot uns den weiteren Gebrauch dieses Wortes. Von „Star Trek“ hatte dieser feine Mann des Geistes noch nie etwas gehört, geschweige denn gesehen.
Wir nickten immer alles brav ab, bekamen hin und wieder eine Abmahnung und machten unbeirrt weiter. Ja, wir unterstützten gar die Mutter taz, wenn diese von ihrer jährlichen Finanzkrise heimgesucht wurde. Einmal ließen wir T-Shirts mit „Wenn die taz untergeht, stirbt die Wahrheit“ drucken. Die Leibchen waren ein Renner, die taz überlebte.
Anzeigen von der Staatsmacht
Auch die Staatsmacht, in den Anfangstagen der taz ein ständiger Gast, später weniger, beschäftigte sich mit der Wahrheit. Eines Tages standen zwei ihrer Vertreter im kleinen Redaktionsraum der großen Seite und verlangten barsch Auskunft: „Es liegen drei Anzeigen gegen Sie vor. Es geht um diesen Singvögel-Artikel. Wir wollen die Adresse des Autors!“ Wir waren perplex. Was für ein Singvögel-Artikel?
Dann brummelte der Herr Polizist etwas von „Meisen“, und der Groschen fiel: Die Anzeigen (eine von einem Tierschutzverein, zwei privat) bezogen sich auf einen Text, in dem ein junger Student behauptet hatte, er fange auf seinem Balkon Meisen und verkaufe diese dann an italienische Spitzenrestaurants in Berlin, weil Singvögel auch hier inzwischen als Delikatesse gälten. Demnächst wolle er auf Amseln umsteigen, da sei schließlich mehr dran. Nachdem wir den Ordnungskräften eine kleine Lektion in Sachen Satire erteilt hatten, rangen die sich gar ein Lächeln ab. Eine Verhaftung fand an diesem Tag nicht statt.
Inzwischen ist die Wahrheit nicht mehr gefährdet. Im Gegenteil: Mehrere Autoren haben ihre Kolumnen in Büchern veröffentlicht, ©TOM ist längst ein preisgekrönter Superstar der Comicszene, Ralf Sotscheck ist ständig auf Lesereise – und auch die gesammelten Gurken des Tages findet man in gut sortierten Buchhandlungen.
Doch das alles bedeutet selbstverständlich nicht, dass die Moralapöstelchen ihre Angriffe auf die Wahrheit aufgegeben hätten. Was soll’s? Denn wenn sich mal wieder so ein fundamentalistischer Weihwasserfrosch beschwert und die Chefredaktion daraufhin vor Ehrfurcht erstarrt und der letzten Seite eine Abmahnung verpassen will, so beweist das doch nur, dass die Wahrheit auch in ihrem elften Jahr auf dem richtigen Weg ist.
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