Die Wahrheit: Abzweig ins Nirgendwo
Woher Straßennamen kommen, wohin sie führen und wie abseitig sich die Wegführung in Gesamtdeutschland gestaltet. Eine Verortung.
Vielfach zweigt in ländlichen Regionen der neuen Bundesländer kurz vor oder nach einem Ortsausgangsschild, in den beginnenden Wald hinein, nach rechts noch ein unbefestigter Weg ab, der fast immer „Rudolf-Breitscheid-Straße“ heißt. Angesichts des vielfältigen Angebots an Straßennamen überrascht das. Warum heißen solche Wege nicht viel öfter „Waldweg“, „Am Rieselfeld“ oder „5th Avenue“? Natürlich nur, wenn der Ort noch mindestens vier weitere Straßen hat.
Der am häufigsten vorkommende Straßenname in Deutschland ist Hauptstraße, auf Platz zwei liegt Schulstraße. Hauptschulstraßen gibt es hingegen so gut wie keine, aber es gibt ja auch keine Hauptschulen mehr. Beide Namen, sowohl die Haupt- als auch die Schulstraße, sind für die zumeist pfadähnlichen, nach längerem Regen nur mit dem Pferdefuhrwerk oder im ausgedienten NVA-Schwimmpanzer passierbaren Rudolf-Breitscheid-Straßen regelmäßig keine Alternative, weil Hauptstraßen per se einen gewissen Ausbaugrad erfordern und an Schulstraßen nach landläufiger Auffassung eine Bildungsstätte liegen sollte.
Die Person, nach der die meisten Straßen benannt sind, ist Friedrich Schiller, dicht gefolgt von Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Ludwig Jahn. Einen Frauennamen findet man unter den zweihundert häufigsten Straßennamen nicht, wenn man einmal davon absieht, dass es sich bei den Geschwistern Scholl um Bruder und Schwester handelte. Aber immerhin heißt es ja – außer im Genitiv und im Dativ – inzwischen nicht mehr der, sondern die Straße. Ein Umstand, der auch einmal gewürdigt werden sollte in diesen schweren Gender-Zeiten.
Ausgesprochen ungebräuchlich sind Namen wie „Straße, wo das Arschloch wohnt, das nie das Tempo-30-Schild beachtet“ und „Allee an der Tierkörperbeseitigungsanstalt“, warum auch immer. Auch die „Straße formerly known as Walter-Ulbricht-Straße“ gibt es nicht; den dahinterstehenden Lebenssachverhalt – die eine bestimmte politische Situation widerspiegelnde Erst- oder Umbenennung von Straßen – hingegen sehr wohl.
Rudolf Breitscheid über alles
Auch die nach Rudolf Breitscheid benannten Straßen fallen in diese Kategorie: Breitscheid war ein sozialdemokratischer Politiker. Im August 1944 kam er im Konzentrationslager Buchenwald ums Leben. Im Westteil Berlins trägt seit 1947 ein zentraler Platz seinen Namen. Als Hitler-Gegner wurde er auch in der DDR vielfach gewürdigt.
Doch ist es eigentlich eine Ehrung, wenn die Straßen im Grunde nirgendwohin führen – außer vielleicht zu einem einsamen Gehöft, auf dem ein kauziges Ehepaar ausrangierte Wartburg-Karosserien sammelt und seine sieben Kinder hartnäckig der Schulpflicht entzieht? Oder zum Gelände einer ehemaligen Broilermastanlage, auf dem gerade eine ökologische Reihenhaussiedlung entsteht mit Häusern, in denen man vom Karibik-Urlaubsdomizil aus mit der Apple-Watch die Milchschaummenge des Kaffeeautomaten steuern kann?
Generell sind politisch grundierte Straßennamen nicht zukunftsfest. In Leipzig hat es die in der zeitlichen Abfolge erst Südstraße, dann Adolf-Hitler-Straße und schließlich Karl-Liebknecht-Straße benannte Magistrale als „Adolf-Südknecht-Straße“ mittlerweile vom Volksmundlichen bis in die Reiseführer geschafft.
Wer war Landsberger?
Manchmal sorgt ein Namenswechsel für heftige Verwirrung. Als in Ostberlin 1990 die Leninallee in Landsberger Allee zurückbenannt wurde, fragte ein Graffito: „Wer war Landsberger?“ Eine löbliche Ausnahme sind die in den neuen Bundesländern anzutreffenden Straßen der Einheit – gemeint war einst: der Arbeiterklasse, jetzt: deutsche. Das ist umbenennungsresistent, da kann es ruhig auch mal wieder anders kommen.
Falls Sie also mal jemandem aus den neuen Bundesländern begegnen, der in der Rudolf-Breitscheid-Straße wohnt, dann wissen Sie gleich: bis zum Ortsausgang, und dann rechts rein in den Wald. Wo früher die Broilermastanlage stand.
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