Die Wahrheit: Gefühlte Maße
Passend: Die faszinierende Welt der Tacken, Prisen und Mützen bietet viel Raum für eine subjektive wie exakte Kartierung des Alltags.
Es gibt Maßeinheiten, die in keinem Lehrbuch oder Tafelwerk auftauchen, sondern allein im Umgangssprachlichen existieren. Eine davon ist der Tacken. Er bezeichnet gemeinhin eine Menge oder Länge von geringem Ausmaß. Auf die Frage: „Hängt das Bild gerade an der Wand?“ gibt es ein: „Mach mal links einen Tacken höher!“ zur Antwort. Obwohl niemand zu sagen wüsste, wieviel das in Millimetern oder Zentimetern ist, überzeugt das Ergebnis: Am Ende hängt das Bild in aller Regel gerade. Beziehungsweise links einen Tacken zu hoch, aber viel genauer bekommt man das auch mit einer geeichten Wasserwaage nur in glücklichen Momenten hin.
Eine gleichermaßen unwissenschaftliche Einheit ist die „Prise“. Sie wird im Zusammenhang mit körnigen oder kristallinen Substanzen wie Salz und Zucker verwendet. Wer laut Rezept eine Prise Salz in die Suppe geben soll, der weiß, dass es sich weder um lediglich zwei Krümel handelt noch um eine komplette Lkw-Ladung. Sondern um eine Menge irgendwo dazwischen, allerdings deutlich näher an den zwei Krümeln dran.
Daran erkennt man, dass Gefühlseinheiten nicht beliebig sind. Zwar weiß niemand, wieviel ein Tacken oder eine Prise exakt ist, aber dass ein Tacken niemals eine Strecke von mehreren Kilometern umfasst oder dass eine Prise keine drei Tonnen wiegt, das ist jedem klar. Nur so ist es auch erklärbar, dass Tacken und Prise verdoppelt werden können: zwei Tacken und zwei Prisen sind logischerweise mehr als ein Tacken und eine Prise, auch wenn allein die Möglichkeit der Verdopplung diesen Einheiten nicht das Ungefähre nimmt. Eine Verdrei- oder Vervierfachung ist hingegen unüblich; wohl deshalb, weil die Abgrenzung zwischen zwei Prisen und drei Prisen kaum möglich ist: zwei Prisen sind möglicherweise mehr als drei, wenn die einen eher groß und die anderen eher klein ausfallen.
An der auf dem Dezimalsystem beruhenden Umwandlung in nächstgrößere oder nächstkleinere Einheiten nehmen Gefühlseinheiten nicht teil. Sie verweigern sich dem metrischen System, es gibt keinen Milli-Tacken und keine Kubik-Prise. Diese Einmaligkeit teilen Tacken und Prise mit bestimmten alten Maßeinheiten wie Fuder oder Klafter, die der moderne Mensch nur aus Märchen kennt. Oft waren diese Einheiten regional geprägt und haben ihre Bedeutung im Lauf der Geschichte verändert. Nie jedoch gab es Hekto-Fuder und Dezi-Klafter. Genau wie Tacken und Prise stehen Klafter und Fuder für sich. Ein wenig einsam und verloren vielleicht, aber auch stolz und unverwechselbar. Als knorrige Denkmale einer vergangenen Zeit blicken sie leicht amüsiert auf all die modischen Mikrogramms und Kilowattstunden, die nur Ableitungen sind und keine Originale, so wie sie.
Als Zeiteinheit nicht näher bestimmt
Eine der faszinierendsten Gefühlseinheiten ist die „Mütze“. „Und jetzt nehme ich erst mal eine Mütze Schlaf!“, verabschiedete sich der Großvater aus der Familienrunde, wenn mittags die Teller und Gläser geleert waren. Dann verschwand er in seinem Zimmer und kehrte irgendwann erfrischt zurück. Die Mütze Schlaf hatte ihm gut getan.
Auch die Mütze war als Zeiteinheit nicht näher bestimmt. Sie bedeutete: nicht zu kurz, aber auch nicht zu lang. Ein Fauxpas wäre es gewesen, den Großvater bereits nach zehn Minuten Schlaf zur Rückkehr in die familiäre Runde nötigen zu wollen; ebenso falsch wäre es gewesen, damit bis zum nächsten Frühlingsanfang zu warten.
Das scheint sich hinter den Gefühlseinheiten zu verbergen: je nach konkreter Situation, nach persönlicher Neigung oder Stimmung stehen sie für ein anderes Maß. Gefühlseinheiten sind individuell und menschenfreundlich; der Optimierer hingegen, der Statistiker, der Unternehmensberater schlägt die Hände über dem Kopf zusammen: Was soll er rechnen, wenn ein Haufen Mitarbeiter für eine Handvoll Geld ein Weilchen arbeiten muss? Wieviel ist ein Haufen, eine Handvoll, ein Weilchen?
Ein exakter Vorsatz für Maßeinheiten
Rationalisten brauchen es hart und verifizierbar; sie haben die Bruttoregistertonne erdacht und den Newtonmeter, die Personenstunde und das Bequerel: Damit sie Sedimentationskoeffizienten und magnetische Flussdichten ermitteln und in bunten Diagrammtorten die Zusammensetzung der Lohnstückkosten in den Ländern der Europäischen Union darstellen können.
Entgegen der umgangssprachlichen Praxis ist das Mü (oder My) keine gefühlte Größe, sondern ein exakter Vorsatz für Maßeinheiten. Es leitet sich vom griechischen Buchstaben µ ab und steht für „mikro“, mithin für ein Millionstel. In der Physik bedeutet ein µ unter anderem auch ein Millionstel Meter. Exakter geht es kaum. Man braucht schon einen sehr guten Zollstock, um den genau nachmessen zu können.
Eine ganz besondere Einheit ist die Seemeile. Die Vorsilbe erweckt den Eindruck, draußen auf den Ozeanen sei – aufgrund der harten Bedingungen und weil Matrosen eben ganze Kerle sind – eine Meile etwas ganz anderes als eine Meile an Land. Und in der Tat: Eine Seemeile misst nach heute gültiger Festlegung 1.852 Meter, während eine (Land-)Meile zwischen 500 (chinesische Meile) und über 11.000 Metern (norwegische Meile) betragen kann. Man sollte das bei der Bemessung des mitgeführten Proviants bedenken: Sind es tausend Chinameilen bis Amerika oder tausend Seemeilen?
Wieviel ist ein Seetacken?
Interessante Effekte lassen sich erzielen, wenn man zu anderen Einheiten See-Einheiten bildet. Wie lange wünscht der Großvater ungestört zu bleiben, wenn er sich nicht für eine Mütze, sondern für eine Seemütze Schlaf zurückzieht? Wie viele Gurken bekäme man, wenn man auf einem Schiff drei Seekilo davon zu kaufen wünschte? Gäbe es überhaupt Gurken, oder haben sie dort nur Seegurken? Wieviel ist ein Seetacken?
Die Nähe zum Wasser prägt auch die von Anglern verwendeten Maßeinheiten: den Anglermeter und das Anglerpfund. Sie dienen in Erzählungen der Ausschmückung von Größe und Gewicht des gefangenen Fisches. Der Zuhörer wird, sofern er nicht bis in den Feierabend hinein eine erbsenzählende Buchhalterseele ist, verständnisvoll nicken. Was ist jetzt wichtiger: dass der Ein-Meter-Hecht in Wirklichkeit nur 60 Zentimeter lang war – oder die Freundschaft? Na bitte!
Ein bisschen weniger, meistens aber ein bisschen mehr
Im Rheingau existiert eine besondere Gefühlseinheit: das „Piffchen“, eine kleine Menge Wein, die an jedem Stand, in jeder Straußenwirtschaft und in jedem Restaurant ausgeschenkt wird. Es leitet sich wohl von Pfiff ab, weil das Piffchen so klein ist wie dieser kurz: Kaum hat man damit angefangen, ist es auch schon wieder vorbei. Ein Piffchen ist mehr als ein Probierschlückchen, aber weniger als ein mit 200 Millilitern gefülltes Normalglas. Ein Piffchen ist die Hälfte davon. Aber nur ungefähr; jeder, der mir ein Piffchen einschenkte, schien Wert darauf zu legen, dass es nicht exakt 0,1 Liter sind. Sondern ein bisschen weniger, meistens aber ein bisschen mehr. Sonst wäre es ja kein Piffchen, sondern „Nulleins“. Das Piffchen entspricht der Mentalität der Einheimischen: freundlich, ein bisschen oberflächlich, genussorientiert, penibel nur dort, wo es drauf ankommt.
Wenn man als ein mit dem dortigen Brauchtum nicht vertrauter Auswärtiger an einem Ausschank nicht um ein Piffchen, sondern versehentlich um ein „Schnippchen“ bittet, dann bekommt man ohne Federlesen, überhebliches Grinsen oder unwillkommene Belehrungen ein Piffchen des gewünschten Rieslings eingeschenkt. So sieht interkulturelle Kompetenz aus.
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