Die Wahrheit: Bahnhof mit Braunbär bei Nacht
Es ist spät, es ist dunkel. Jeden Augenblick könnte ein Zug kommen. Aber es gibt keine Fahrpläne. Nur dieses große Tier, das weiß, wohin die Reise geht …
E s war schon Nacht, als ich mich am Bahnhof einfand, um heimzufahren. Kaum hatte ich die Halle des alten Gebäudes betreten, drang das Gerücht durch, ein Zug könne jeden Augenblick kommen. Auf solche Gerüchte war man angewiesen, seit es keine Fahrpläne mehr gab. Die Bahn hatte sie sowohl aus Einsparungsgründen abgeschafft als auch wegen der Unmöglichkeit, die leichtfertig gegebenen Terminversprechen zu halten.
Die wartenden Fahrgäste rannten auf gut Glück zu den Bahnsteigen. Da auch ein riesiger Braunbär darunter war, hielt ich Abstand. Ich mochte es nicht, wenn riesige Braunbären eigenmächtig auftauchten. Dieser hier war sicherlich harmlos und wollte nur seinen Zug erreichen, trotzdem war mir in seiner Gegenwart nicht wohl.
Niemand wusste, an welchem Bahnsteig die Einfahrt erfolgen würde, interessanterweise verließ man sich auf den Instinkt des Bären. Die Treppe, die er emporlief, musste die richtige sein, und die Menschen folgten ihm. Oben stand ein abfahrbereiter Personenzug altertümlicher Bauart. Nichts verriet, wohin er fahren würde; die Anzeigetafeln funktionierten nicht, Zugpersonal wurde eingespart, und der Lokführer war verstockt.
Der Bär schien schon eingestiegen zu sein, ich sah ihn nirgends mehr. Auch alle anderen kletterten in einen der Wagen, ich jedoch konnte mich nicht dazu entschließen. Weder wusste ich, wohin die Fahrt gehen würde, noch fand ich es verlockend, mit einem frei laufenden Braunbären zu reisen. Nein, sagte ich mir, ein Rest von Vernunft muss selbst in einer solchen Lage walten, und stieg nicht ein.
Der Zug fuhr ohne mich ab und ohne dass ich zu erkennen vermochte, in welche Richtung. Wahrscheinlich konnte ich rechts, links, Osten und Westen nicht mehr unterscheiden. So blieb ich allein auf dem Bahnsteig zurück. Weil ich unter diesen wenig schönen Umständen keine negative Einstellung zur Bahn entwickeln wollte, wiederholte ich viele Male den Satz: „Die Eisenbahn, die Eisenbahn, sie hat des Guten viel getan.“
Trotzdem verlor ich die Hoffnung, es werde noch ein Zug in die mir gemäße Richtung fahren. In der Zeit, die ich hier durch sinnloses Warten verlor, konnte ich zu Fuß nach Hause gehen – vorausgesetzt, dass in der Zwischenzeit kein scherzhaftes Zumauern des Bahnhofs stattgefunden hatte und ich überhaupt hinaus konnte. Die Gefahr des scherzhaften Zumauerns bestand theoretisch immer. Dem Hauptbahnhof war es mehrere Male widerfahren, bis die Stadtväter ihn durch ein riesiges Loch im Boden ersetzt hatten.
Ich lief die Treppe hinunter und zurück in die dunkle, leere Halle. Nichts war zugemauert. Die Glastür ließ sich ohne Weiteres öffnen, und ich gelangte hinaus. Auf dem Vorplatz warteten mehrere Taxen auf Millionäre. Die Fahrer standen beieinander und nannten die Digitalisierung einen der größten Fehler der Menschheitsgeschichte. Damit sprachen sie mir aus der Seele, und ich rief: „Nehmen wir uns ein Beispiel an den Braunbären. Sie brauchen keine Digitalisierung, und sie haben recht.“
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