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Die WahrheitThe Mighty Gnome

Kolumne
von Joachim Schulz

Im Umgang mit übersinnlich begabten Kindern ist Vorsicht geboten. Das gilt besonders, wenn sie im Schlepptau ihrer Mutter sind.

R aimund starrte zur anderen Straßenseite hinüber. „Schau dir das an!“, hauchte er und deutete auf einen kleinen Jungen, der sich an der Hand seiner Mutter widerspenstig motzend den Bürgersteig entlangziehen ließ. Auf einmal hob das Kerlchen den Arm und zeigte auf einen prall gefüllten gelben Sack. „Peng!“, machte der Knirps und der Sack zerplatzte wie ein angestochener Luftballon.

„Donnerschlag“, japste ich. Die Mutter blieb stehen. „Lass das“, herrschte sie den Pöks an, doch der grinste nur, hob wieder den Arm und schnickte mit dem Finger in Richtung einer der Tauben, die über den Gehsteig glucksten. „Buff!“, machte er und die Taube kugelte, von einem unsichtbaren Schubs getroffen, ein paar Meter rückwärts, ehe sie davontorkelte.

„Fantastisch!“, flüsterte Raimund: „Ich sage dir, die mageren Jahre sind vorbei – wir werden ein glorreiches Team sein: Du, ich und der Gnom!“ Und bevor ich ihn aufhalten konnte, sprang er über die Straße.

Als ich ihm nachgeeilt war, hatte er die Frau bereits in ein Gespräch verwickelt. „Ihr Sohn kann erstaunliche Dinge“, sagte er. „Sie finden das erstaunlich?“, sagte die Frau, „Möchten Sie mal kucken, wie’s bei uns zu Hause aussieht?“ – „Na ja“, erwiderte Raimund und blickte auf den explodierten Müllsack, „wahrscheinlich ist es dort etwas unordentlicher als Sie es sich wünschten – aber überlegen Sie mal, wie viel Geld er im Fernsehen verdienen könnte! Mit mir als Manager würde …„

„Manager?“, unterbrach sie ihn, „Fernsehen? Ich will nicht, dass er ins Fernsehen kommt. Ich will, dass er in den Kindergarten geht und wacklige Türme aus Bauklötzen baut wie jeder andere Junge in seinem Alter, statt die Kindergärtnerinnen in Panik zu versetzen, sobald er den Arm hebt!“

„Okay, okay“, beschwichtigte Raimund sie, „dann eben nicht ins Fernsehen. Wie wäre es stattdessen mit einer Karriere als Außenpolitiker? Stellen Sie sich vor, ich reise mit ihm zu den berüchtigsten Diktatoren, und kaum hat er fünf Minuten vertraulich mit ihnen zusammengesessen, erklären sie ihren Rücktritt und den Bürgerkrieg für beendet. Er würde als jüngster Friedensnobelpreisträger aller Zeiten in die Geschichte eingehen – und dafür übrigens ein Preisgeld kassieren, das uns allen ein sorgloses …„

„Schluss jetzt!“, herrschte die Frau ihn an: „Mein Sohn ist weder für den Weltfrieden verantwortlich noch dafür, Ihnen die Taschen zu füllen! Ich will, dass kein Buswartehäuschen mehr explodiert, wenn er darauf zeigt, und deshalb gehen wir jetzt dort hinein!“ Wir standen vor einem Haus, in dem sich die Praxis eines auf Hypnose spezialisierten und für seine spektakulären Erfolge weithin bekannten Psychiaters befand.

„Nein, nicht!“, rief Raimund, doch sie trat schon durch die Tür und nur der Knirps drehte sich auf der Schwelle noch einmal um. „Buff!“, machte er, und Raimund kugelte, von einer Taube neugierig betrachtet, rückwärts über den Gehsteig, was aber, wie ich fand, bei Weitem nicht so schmerzhaft war wie müllsackgleich zu explodieren.

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