Die Wahrheit: FKK mit Harry Rowohlt
Eine Hamburger Begegnung ohne Kleider. Da, wo ich bin, ist immer auch Harry Rowohlt. Zumindest fast.
Ich wuchs bei meinen Eltern in Reinbek bei Hamburg auf, was fast so schön wie Volksdorf ist, nur nicht ganz so wohlhabend. Jedenfalls nicht an dem Teil des Waldes, an dem wir wohnten. Am anderen Teil lag und liegt der Rowohlt Verlag mit seinem Sechzigerjahre-Bungalow-Ensemble, und das fand ich ziemlich aufregend, so ein toller Verlag in unserem blöden Kaff.
Jetzt wohne ich in Hamburg-Volksdorf, drei Gehminuten von der Rowohlt-Villa entfernt, die Rowohlt-Geister sind quasi meine Nachbarn. Auch Hemingway liegt in der Luft, er war bei den Rowohlts zu Gast, aber der interessiert mich nicht. Zu viel Stier, zu viel Zigarrenqualm.
Harry Rowohlt interessiert mich auch nicht sonderlich, aber irgendwie ist er dort, wo ich bin. Die Exchefin von meinem Exfreund ist die Freundin von Harry R. Zumindest eine. Zumindest behauptet sie das. Er tut hingegen so, als sei sie etwas, das sich nicht abschütteln ließe. Ein Cockerspaniel etwa oder ein dicker Brummer. Aber auch, wenn ich die "Lindenstraße" anschalte, ist Harry schon da und brummelt in seinen Bart. Oder wenn es etwas vor Publikum zu Lesen gibt, mit Kollegen, dann ist der zauselige Mann auch nicht weit. Einmal, nach einer Lesung, kam das Gespräch auf Wohnorte und ich offenbarte meine Rowohlt-Verbindung mit Reinbek und Volksdorf. Was Harry Rowohlt mir nach einem Moment des Erstaunens schenkte, war ein Blick tiefsten Mitgefühls. Ja, Mitleid kroch in seine Augen und legte sich milde auf mich. Für einen Moment fühlte ich mich wie von einer warmen Abendsonne beschienen, es fehlte nur, dass er sagte: "Das ist ja schrecklich."
Schrecklich ist momentan etwas ganz anderes. Schrecklich ist das, was sich anbahnt. Eine Begegnung. Eine Begegnung ohne Kleider. Es ist Sommer. Schwimmbadsaison. Ich bin mit meinem Fahrrad ins Waldbad geradelt, dem FKK-Bad in unserem beschaulichen Ort. Es ist heiß. Die Nachmittagssonne senkt sich langsam nieder, die anderen Nackten sind schon da beziehungsweise die Nackten. Ich zieh mich nie ganz aus, dazu bin ich nicht alt genug. Ich laviere mich zwischen Campingstühlen und Badematten hindurch, weiche Müttern und Töchtern aus, die unterhalb des Bauchnabels völlig gleich aussehen.
Ich stolpere auf den Platz unter dem Baum zu, da fährt der Blitz in mich hinein. Ein Mann kommt auf mich zu. Nackt. Harry Rowohlt. Ich glaube, ich hoffe, nicht richtig zu gucken. Ich will nicht sehen, was ich sehe: Haare, Brille, Bart - Harry Rowohlt, leibhaftig. Ich denke "O Gott!" und "Scheiße!", stehe da in meinem blassgrünen Sommerkleid, der einzige Mensch weit und breit, der sich nicht an die Kleiderordnung hält, und ein käsig-nackter Mann wackelt auf mich zu und grinst. Ich frage mich, ob das sein kann, Harry in Volksdorf. Frage mich, was der hier will, in seiner verhassten Heimat. Mir fallen Tiere ein, die zum Sterben an den Geburtsort zurückkehren und denke, so alt ist der doch noch gar nicht. Ich frage mich, ob das sein kann, was sich vor mir abspielt: ein großartiger Kolumnist, grandioser Übersetzer, Gedichtemacher und Wortspieler, ein unberechenbarer Brummelheini und Miesepeter entsetzlich nackt, und ausgerechnet er stampft auf mich zu. Es ist für alles zu spät. Zur Flucht, zur Umkehr. Ich frage mich, was ich sagen soll.
Ich frage mich, wie man mit einem spricht, der nichts anhat, während die Augen über eine Haut wandern, die sich schrumpelt und legt und hässliche Flecken bereithält. Wo hingucken? Ob es wohl erlaubt ist, im Gespräch den Blick zu senken?
Ob man sagen kann "Gut ausgestattet!", wie man hübsche, neue Schuhe lobt?
Und ich will selbst nicht so gesehen werden, in diesem tief dekolletierten Fetzen von Kleid, den man nur tragen kann, wenn es 30 Grad plus hat und einen keiner kennt. "Harry!", möchte ich sagen, "bitte geh vorbei und tu so, als gäbe es mich nicht. Wir kennen uns nicht, haben nie miteinander gesprochen, sind nicht gemeinsam Taxi gefahren und haben auch nicht mit anderen über Volksdorf gelacht."
Der Mann, der Harry Rowohlt ist, geht vorbei. Sein Hintern hängt in Falten herunter, die Beine sind blau durchwoben, die Arme baumeln schrumpelig an den Schultern. Er trägt einen kleinen Zopf mit gedrehter Locke. Harry Rowohlt trägt keinen Zopf, schon gar nicht mit gedrehter Locke.
Da, wo ich bin, ist immer auch Harry Rowohlt. Also fast.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kanzler Olaf Scholz über Bundestagswahl
„Es darf keine Mehrheit von Union und AfD geben“
Weltpolitik in Zeiten von Donald Trump
Schlechte Deals zu machen will gelernt sein
Einführung einer Milliardärssteuer
Lobbyarbeit gegen Steuergerechtigkeit
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Trump macht Selenskyj für Andauern des Kriegs verantwortlich
Wahlarena und TV-Quadrell
Sind Bürger die besseren Journalisten?
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links