Die Wahrheit: Steine aus Holz im Wald der brüchigen Mauern
Im Nachlass des Dichters Fjodor Michailowitsch Dostojewski wurde ein verschollen geglaubtes Romankapitel entdeckt.
In Moskau hat sich dieser Tage eine literarische Sensation ereignet. Im Nachlass des großen Dichters Fjodor Michailowitsch Dostojewski wurde ein verschollen geglaubtes Kapitel seines unvollendeten Romans "Eine alltägliche Geschichte" entdeckt. Dostojewskis Urururururenkelin Katharina Maledingswodinjewa braucht Geld für ihr Studium der Raumfahrtechnik und hat der Wahrheit das handgeschriebene Manuskript für eine Summe von dreißig Rubel überlassen. Die Wahrheit veröffentlicht heute erstmals das Stück Weltliteratur.
Der Großfürst Lawrentjew Jakowlewitsch Werchowenskij aus Semipalatschinsk war den Sommer wider alle Erwartung nicht aufs Land gefahren, sondern in seiner Stadtwohnung geblieben, da sie des warmen Wetters wegen ohnehin nicht geheizt werden musste.
"Manchmal fühle ich mich wie im Boudoir einer Modedame", pflegte er gerade zu sagen, "dabei bin ich nur wie ein abstraktes Wesen auf einem Luftballon, das sich die Wahrheit sagt", fuhr er mit halber Stimme fort.
Seine Gäste an diesem Morgen waren der Gouverneur Nihil Nilytsch Nihilow und dessen Geliebte Arina Prochorowna, die zugleich die Gemahlin des Großfürsten war. Es waren bereits einige Worte gefallen und nicht aufgehoben worden, und der Großfürst war eben im Begriff, sich zu erheben, als er auch schon aufgestanden war.
"Unterstehen Sie sich nicht!", rief er unvermittelt und stampfte mit dem unteren Ende seines rechten Beines auf, dem Fuß.
"Ich stehe nicht an, mich zu unterstehen", versetzte der Gouverneur mit kühler Anteilnahme. Die Kerze auf dem Teetisch, die der Diener ausgelöscht hatte, brannte bis auf den letzten Rest herunter.
"Das steht Ihnen nicht zu!", schrie der Fürst mit herzzerschneidender Stimme, die seine eigene war, und lief so rot an, dass er fast ein bisschen blau aussah.
"Aber verstehen Sie doch!", brüllte jetzt Nihil Nilytsch, sichtlich um Fassung bemüht, und ein schmerzhafter Krampf, der anscheinend von einem großen Schrecken herrührte, lief über sein Gesicht und verschwand im Haaransatz, ohne sich umzublicken.
"Nichts verstehe ich!" Lawrentjew lachte zersprungen. Er war doch ein Mensch! Mehr noch, er hätte gar keiner werden dürfen! Nur die Ungeborenen leben glücklich … In diesem Augenblick schwor er sich, ganz bestimmt und sofort wegzugehen und sich zu retten, koste es, was es wolle, und … er blieb doch. Es war ja auch sein Haus! Aber das fiel ihm erst sehr viel später ein.
In diesem Augenblick warteten alle auf ein Zeichen, dass etwas geschehe, und tatsächlich stand jetzt Warwara Warwarowna Wirwarowarskaja vor Werchowenskijs Haus, doch niemand bemerkte sie - die Hauswand war aus zu dicken Steinen gemauert, als dass man durch sie hätte hindurchsehen können. Endlich sagte der Großfürst, merklich gelassener und mit wiedergewonnener Überlegenheit: "Fahren Sie fort! Nein. Bleiben Sie hier. Missverstehen Sie mich nicht! Sie wollen doch nicht … wollen Sie frühstücken? Excelent ami, très cher. Ah! Quelle chose" - als die Tür sich öffnete und Wsewolodin den Salon betrat. Er war ein junger Mensch, aber der Kampf für seine Botschaft von Russlands Sendung zur Erlösung im Glauben hatte bereits tiefe Furchen in seine Runzeln gegraben.
"Wichtige Neuigkeiten, Väterchen!", sagte er und umriss in wenigen Worten, was er morgen erlebt hatte. "Jelisaweta wird nicht wissen, dass die Smerdjakowa gemeinsame Sache mit Niki Nikiforowitsch macht, und das hinter dem Rücken von Nadeschda Semjonowa und Artemij Infamowitsch Pogorelzew", erläuterte Wsewolodin, genauer gesagt Wsewolodin Wsewolodowitsch Wsewolololow. "Marja Nikitischna hinterbringt es ihr, und sie hat natürlich nichts Besseres zu tun, als sofort zu Kapiton Tolpatschenko zu laufen, sich über Gaganow das Maul zu zerreißen und Agafja Petrowna anzuschwärzen. Und warum? Und warum?! Um hier in Semipalatschinsk Verwirrung zu stiften!"
"Das wird ihr nicht gelingen!", versicherte Otrepjew, der inzwischen eingetroffen war. Auch Maxim Minimowitsch war da, hielt sich aber noch zurück; ebenso wie die Tochter der Adelsmarschallin, Julija Ignatjewna Dobrosjolowna, Netotschka Neswanowna, die beide nicht zugegen waren, und der Sekretär, der aus Holz war und unbeachtet in der Ecke stand.
"Wir starrten alle Ochranow an", schwatzte Wsewolodin weiter, während sich der Raum mit weiteren Gästen füllte, "seine Gattin war ganz aufgelöst, ihr Haar zerzaust, barfuß und halbnackt. Das kann ich der Alten nicht antun!, hatte ihre Zofe später zu Protokoll gegeben, dass ihre Tante, die langjährige Lebensgefährtin des Grafen, den Vertrag verfertigt habe. Ha! Pure Fantasie! Schnell wurde die Gräfin abgetrennt und niedergeschlagen, freigesprochen obendrein."
Mehrere hundert Anwesende nickten, bis auf Arina, die aber ihre Erregung hinter spitzen Schreien, Armrudern und Fußstampfen verbarg. Die anderen wollten sie beruhigen, kamen aber nicht dazu, weil sie alle ohne Ausnahme im Saal aufgeregt hin- und herliefen.
Auch der Großfürst wollte jetzt mit den Armen aufstampfen und den Füßen fuchteln, aber verhedderte sich hoffnungslos in seinen Gliedmaßen, ein Sinnbild seiner Gedanken. Ihm schwindelte, aber fallen konnte er nicht, da nun Tausende und Abertausende den Salon bis unter den Zimmerdeckel bevölkerten und weitere Millionen und Abermillionen vor dem Haus und in den Weiten Russlands nachdrängten. Endlich barst das Haus unter Donnergetöse; die Gäste wurden ins Freie befördert, das Fest war zu Ende, und Lawrentjew Jakowlewitsch Werchowenskij purzelte auf den wie jeden Tag um diese Stunde vorbeikarrenden Ochsenwagen des ehemaligen Leibeigenen Skrofulenko, kam sogleich wieder zu mir gefahren und berichtete mir alles. Ich gähnte gelangweilt. Sollte bei uns in Semipalatschinsk denn nie etwas Ungewöhnliches passieren?
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