Die Wahrheit: Schmidt, der Schlot
Starkraucher Helmut Schmidt hat die Weimarer Anna-Amalia-Bibliothek in Schutt und Asche gelegt.
Wie man weiß, ist der Altkanzler Helmut Schmidt die einzige Person, der es auch heute noch erlaubt ist, alle geschlossenen Räume zu berauchen, die weder als religiöse Kultstätten noch als Operationssäle oder Intensivstationen dienen. Schmidt schmaucht im Bundespräsidialamt, quarzt im Oval Office, qualmt im Elysée-Palast und pafft im House of Lords, sofern man ihn an diese Orte einlädt. Zur Verzweiflung der zuständigen Brandschutzbeauftragten scheint er im Übrigen besonders gern in Fernsehstudios zu rauchen, aber auch auf Theaterbühnen sowie in Museen, Opernhäusern, Kantinen, Personenaufzügen, Iglus, Pferdeställen, Panzern, Taucherglocken, Raumkapseln und Eltern-Kind-Abteilen.
Dieser Umstand dürfte auch dem Präsidenten der Klassik-Stiftung Weimar, Hellmut Seemann, bekannt gewesen sein, als er Schmidt zu einem Rundgespräch über den Stellenwert des geistigen Erbes im Digitalzeitalter in die Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek einlud. Zu Beginn der Veranstaltung, die am 1. August 2011 im Rokokosaal des Anwesens vor zweihundert geladenen Gästen aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Hochleistungssport stattfand, stand an Schmidts Platz jedenfalls ein kolossaler Aschenbecher bereit, während die anderen Teilnehmer, unter ihnen Sigrid Löffler, Margot Käßmann, Theo Sommer, Ulrich Beck, Hans Küng und Sascha Lobo, nicht einmal gefragt worden waren, ob sie rauchten. Als Organisator ging Hellmut Seemann stillschweigend davon aus, dass sie gar nicht erst auf die Idee kämen, aus Schmidts Privilegien irgendwelche eigenen Rechte abzuleiten.
Die Diskussion nahm zunächst den erwartbaren Verlauf: Man erörterte das Für und Wider des technischen Fortschritts, zitierte Max Weber und Friedrich Schiller, tadelte das Bildungssystem, lobte die Buchpreisbindung, erging sich im Austausch von Nettigkeiten und richtete sich recht behaglich ein auf einen langen Abend im hochdotierten Passivraucherzirkel rings um Helmut Schmidt.
Was dann jedoch geschah, geht aus einem geheimen Schadensprotokoll hervor, das der taz-Redaktion zugespielt worden ist:
20.36 Uhr: Ein Glutkegel fällt aus Schmidts brennender Zigarette unbemerkt zu Boden und kullert in eine Ritze im Parkett.
20.39 Uhr: Mit wachsender Geschwindigkeit breitet sich unter dem zundermäßig trockenen Parkett ein Schwelbrand aus.
20.51 Uhr: Im rückwärtigen Bereich des Saales züngeln die ersten Flammen an der Wandverkleidung empor.
20.54 Uhr: Ein Saalordner, durch den Brandgeruch aufgeschreckt, stößt auf der Suche nach dem Brandherd versehentlich eines der Bücherregale um. Die heruntergestürzten Bücher fangen augenblicklich Feuer.
20.55 Uhr: Die Flammen lodern bis zur Decke auf. Panik bricht aus.
20.56 Uhr: Wie aus einer Tonbandaufnahme der Veranstaltung hervorgeht, bahnt sich der Theologe Hans Küng seinen Weg durch das Gewühl bis zur rettenden Pforte mit den Worten: "Lassen Sie mich durch! Ich bin Christ!"
21.02 Uhr: Der Rokokosaal ist vollständig evakuiert.
21.22 Uhr: Der Rokokosaal ist vollständig ausgebrannt.
21.25 Uhr: Die Feuerwehr ist vollzählig eingetroffen und flutet die gesamte Bibliothek.
21.45 Uhr: In Absprache mit der Klassik-Stiftung und dem thüringischen Kultusministerium ersucht der Polizeipräsident von Weimar alle Zeugen des Geschehens um strengstes Stillschweigen, mit der Begründung, dass die Nachricht von einem abermaligen und zudem durch sträflichen Leichtsinn verschuldeten Großbrand in der ja bereits im Jahre 2004 schon einmal ausgebrannten Anna-Amalia-Bibliothek dem internationalen Ansehen Deutschlands abträglich sei.
23.32 Uhr: Im notdürftig entwässerten, gelüfteten und getünchten Rokokosaal werden zahlreiche von studentischen Hilfskräften aus einem nahegelegenen Möbelhaus herbeigekarrte Regale mit den dazugehörigen Buch-Attrappen aufgestellt.
0.01 Uhr: Die Feuerwehr zieht ab.
0.53 Uhr: Ein kleiner, in Helmut Schmidts Suite im Hotel Elephant ausgebrochener Zimmerbrand kann vom Personal ohne Hinzuziehung der Feuerwehr mit einer Bettdecke gelöscht werden.
Seither umgibt eine Mauer des Schweigens die dramatischen Vorkommnisse vom ersten August. Doch es lässt sich nicht alles vertuschen. Man könnte sagen, dass Schmidts Zigarette der letzte "Sargnagel" für die Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar war, und nun ist Schmidts private Haftpflichtversicherung gefordert. Ordnung muss sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Vorgezogene Bundestagswahl
Ist Scholz noch der richtige Kandidat?
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
USA
Effizienter sparen mit Elon Musk
Ein-Euro-Jobs als Druckmittel
Die Zwangsarbeit kehrt zurück
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Aus dem Leben eines Flaschensammlers
„Sie nehmen mich wahr als Müll“