piwik no script img

Die WahrheitBesuch von der Schicksalsverwaltung

Kolumne
von Joachim Schulz

Ich machte mir Feinde. Es war November, und die Stimmung in der Stadt war von schwerer Tristesse gezeichnet. Es regnete seit Tagen, selbst mittags …

wurde es nicht mehr richtig hell, und jeder, der halbwegs bei Verstand war, beschäftigte sich mit trübsinnigen Gedanken, niederschmetternder Barocklyrik und Alkoholmissbrauch von bedenklichem Ausmaß. Nur ich sprang morgens fröhlich pfeifend aus dem Bett, stapfte heiter durch den Regen zum Bäcker und strahlte eine unverwüstliche Zuversicht aus. Denn ich hatte kurzentschlossen mein Sparbuch geplündert und würde am Samstag ein Flugzeug besteigen, um zwei fabelhafte Wochen im wonnigen Süden zu verbummeln. Auf diese Weise wurde ich unversehens zum unbeliebtesten Menschen der Stadt.

"Geh weg! Ich will mit dir nicht gesehen werden", sagte Raimund, als ich mich abends im "J. A. Bancroft" neben ihn an die Theke setzte: "Ich hasse dich! Alle hassen dich! Trink dein Bier zu Hause, hier hast du keine Freunde!" – "Also bitte, Raimund", sagte ich, "du hättest ja mitfahren können!" – "Mitfahren? Ha! Nur Weicheier fliehen vor dem deutschen November." – "Manche Leute", sagte ich, "bleiben aber auch nur hier, weil sie notorische Geizhälse sind." – "Geizig? Ich?! Du hast wohl …" Ich unterbrach ihn und winkte dem Wirt: "Mach mal zwei Bier, Josip - eins für mich und eins für diesen etwas sparsamen Burschen! Gehen beide auf mich." - "Nichts da!", fuhr Raimund dazwischen: "Ich habe nicht die Absicht, mich von diesem sauberen Herrn einladen zu lassen!"

Josip trat sehr langsam zu uns. "Dieser saubere Herr", raunte er - und dabei ließ er seinen serbischen Akzent besonders stark durchklingen -, "kriegt hier überhaupt kein Bier, solange er diese absolut inakzeptabel gute Laune hat!" Er fixierte mich mit stechendem Blick. Im "J. A. Bancroft" war es totenstill geworden, und die Luft roch wie in einem schlechten Italowestern nach Mordlust. Mich aber konnte das nicht beirren. Ich lachte, klopfte Raimund auf die Schulter und schlenderte mit den Worten "Tschüss, Kinners, wir sehen uns im Dezember!" hinaus.

Noch drei Tage, zwei, ein Tag –

Ich träumte, dass jemand bei mir klingelte. Draußen stand ein kleiner Mann. "Meyer, Schicksalsverwaltung", sagte er und hielt mir flüchtig einen Ausweis hin: "Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass Sie es nicht verdient haben. Der Beschluss ist endgültig. Rechtsmittel werden nicht gewährt." - "Nicht verdient? Was nicht verdient?!", rief ich, doch das Männchen händigte mir nur den Bescheid aus und verschwand.

Ich erwachte schweißgebadet. "Was nicht verdient?!", rief ich wieder. Dann sah ich den Wecker. "Nein!", brüllte ich, sprang aus dem Bett, lief zum Schrank - doch so schnell ich mich auch anziehen mochte, so sehr ein Taxi rasen würde, mein Flugzeug schwebte da bereits tausende Fuß hoch über der Erde, und das einzig Erfreuliche war, dass ich mir kaum eine Woche lang den Spott von Raimund und den anderen anhören musste, ehe ich wieder mit ihnen zu viel Bier trinken und auf novemberige Weise Trübsal blasen durfte.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!