Die Wahrheit: DVD-Fastenzeit
Im Jahr des Drachen: So wie in den katholischen Teilen Deutschlands, so gibt es auch in Peking eine fünfte Jahreszeit. Zumindest was den Stillstand (...)
S o wie in den katholischen Teilen Deutschlands, so gibt es auch in Peking eine fünfte Jahreszeit. Zumindest was den Stillstand des öffentlichen Lebens und die Völlerei angeht, sind nämlich die Festivitäten zum chinesischen Neujahr und Karneval vergleichbar. Und auch bei uns folgt auf die Zeit der Ausgelassenheit eine Zeit der Beschränkung. Die heißt allerdings hier nicht Fastenzeit, sondern die Zeit der „zwei Konferenzen“.
Die erste Konferenz ist der Nationale Volkskongress, die zweite nennt sich Politische Konsultative Konferenz des chinesischen Volkes. Sie finden jedes Jahr gleichzeitig für zwei Wochen in Peking statt, und zwar meistens irgendwann im März, wobei der NVK als chinesisches Parlament fungiert, und die PkKdcV als beratende Versammlung. Die Beschränkungen betreffen allerdings weniger die Delegierten, sondern uns, die Bewohner dieser Stadt.
Zunächst einmal werden immer wieder diverse Straßen gesperrt, damit die Abgeordneten nicht im Pekinger Dauerstau stecken bleiben, und sich ungehindert zu ihren Tagungsorten bewegen können. Für alle anderen geht es deshalb nicht gerade schneller voran. Dann steht plötzlich an jeder Ecke ein Soldat oder Schutzmann und passt auf, dass keiner Quatsch macht. Unterstützt werden die Uniformierten von einem Heer von Omas und Opas, die mit roten Armbinden am Ärmel auf Klappstühlchen am Straßenrand sitzen und jeden Passanten misstrauisch beäugen.
Das alles stört mich wenig. Ärgerlicher ist schon, dass kurz vor Beginn der Konferenzen plötzlich alle Raub-DVDs aus den Läden verschwinden, und für mich das DVD-Fasten beginnt. Natürlich kann man für zwei Wochen ohne DVD-Nachschub auskommen. Doch ich fürchte jedes Mal, dass die schönen Filme nicht mehr wiederkommen, wenn die Konferenzen vorbei sind. Das geht aufs Gemüt.
Anlässlich der beiden Tagungen beschränken sich aber auch nicht wenige deutsche Medien, und zwar jedes Jahr auf dasselbe Vokabular. So darf man in deutschen Zeitungen wieder und wieder lesen, der Volkskongress sei ein „Scheinparlament“, in dem „Politschauspiele“ aufgeführt würden, die „Ritualen“ folgten. Tatsächlich aber stimmten beispielsweise während der diesjährigen Session des Volkskongresses von 2.800 Abgeordneten immerhin 160 gegen die jüngsten Strafverfahrensrechtsänderungen. Das sind zwar prozentual nicht ganz so viel, wie neulich in der deutschen Bundesversammlung gegen diesen einen Kandidaten der Nationalen Front votierten. Aber fast.
Leider endet die Zeit der zwei Konferenzen nicht wie die deutsche Fastenzeit mit Ostern. Es werden auch keine Eier versteckt. Es verschwindet am Ende höchstens mal ein hochrangiger Funktionär in der Versenkung, so wie dieses Jahr der Chongqinger Parteichef Bo Xilai. Dann werden die Straßensperren wieder aufgehoben, und die Soldaten sowie die Rentner mit den Argusaugen sind plötzlich weg. Und ja, am Ende standen dann auch die Raub-DVDs wieder in den Läden, so wie bisher noch im jeden Jahr. Puh, Glück gehabt.
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