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Die WahrheitEine Siegessäule für McGuffin

Ralf Sotscheck
Kolumne
von Ralf Sotscheck

Eine Fahrt durch die nordirische Grafschaft Down vor einem wichtigen Spiel im gälischen Fußball ist immer wieder eine Freude für jeden Anarchisten.

E ine Fahrt durch die nordirische Grafschaft Down vor einem wichtigen Spiel im gälischen Fußball ist immer wieder eine Freude für jeden Anarchisten. Gestern spielte Down gegen die Nachbargrafschaft Fermanagh, und seit einer Woche ist die ganze Gegend beflaggt. Von jeder Laterne und von jedem Telefonmast wehen die Fahnen – ein Meer in Rot und Schwarz.

John McGuffin, der schriftstellernde Hooligan aus Belfast, dessen Todestag sich gerade zum zehnten Mal jährte, hatte in den siebziger Jahren einmal Jerry Rubin zu Gast. Rubin, ein US-amerikanischer Anarchist, hatte die ersten Proteste gegen den Vietnam-Krieg organisiert, war wegen Störungen des Parteitags der Demokraten angeklagt und gründete gemeinsam mit dem Polit-Aktivisten Abbie Hoffman und Pigasus, einem Schwein, das 1968 bei den Präsidentschaftswahlen kandidiert hatte, die Yippies. McGuffin wollte Rubin etwas von Irland zeigen, und so kam man auch durch Down, wo ein großes Spiel bevorstand und entsprechend beflaggt war. McGuffin redete Rubin ein, dass die Grafschaft unter Kontrolle von militanten Anarchisten stand. Als Rubin dann noch Schilder mit dem Slogan „Up Down“ entdeckte, war er überzeugt, dass er durch das Paradies fuhr.

Allerdings war McGuffin mitunter auch recht gutgläubig. Er besuchte uns jedes Jahr zu Silvester in Berlin. Bei einer Stadtrundfahrt kamen wir an der Siegessäule vorbei, und McGuffin wollte wissen, was das für ein Monument sei. Ich erklärte ihm, man habe es 1974 nach dem deutschen Sieg bei der Fußballweltmeisterschaft errichtet. Die 60 vergoldeten Kanonenrohre in den Rillen der Säule, die in Wahrheit im deutsch-französischen Krieg 1870/71 erbeutet worden waren, symbolisierten Gerd Müller, den „Bomber der Nation“, der 1974 das Siegtor erzielt hatte, machte ich McGuffin weis. Und die Goldelse oben auf der Säule stelle Helmut Schön dar, den damaligen Nationaltrainer. „Ihr Deutschen seid wirklich fußballverrückt“, staunte er.

Zu seinem zehnten Todestag haben seine Freunde in Derry, der zweitgrößten Stadt Nordirlands, die „Free Derry Corner“ rot-schwarz angestrichen und die anarchistische Fahne gehisst. Es ist vermutlich die am meisten fotografierte Giebelwand der Welt, seit irgendjemand am 5. Januar 1969 den Satz „You are now entering Free Derry“ darauf gepinselt hatte. Der Stadtteil war damals für eine Weile befreit, Armee und Polizei trauten sich nicht hinein.

John McGuffin verbrachte seine letzten Jahre in Derry, nachdem er Anfang der Achtzigerjahre in die USA ausgewandert war und 19 Jahre lang in einem Haus mit Blick auf „Frisco Bay“ eine Anwaltskanzlei betrieb. Nebenbei schrieb er unglaubliche Geschichten, und auf einem Dachboden in Derry lagern heute noch jede Menge unveröffentlichter Manuskripte.

Alfred Hitchcock definierte einen McGuffin einmal als ein Objekt oder eine Person, die in einem Film nur dazu dient, die Handlung voranzutreiben, ohne selbst von besonderem Interesse zu sein. Hier irrte Hitchcock: McGuffin war immer von besonderem Interesse.

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Ralf Sotscheck
Korrespondent Irland/GB
Geboren 1954 in Berlin. 1976 bis 1977 Aufenthalt in Belfast als Deutschlehrer. 1984 nach 22 Semestern Studium an der Freien Universität Berlin Diplom als Wirtschaftspädagoge ohne Aussicht auf einen Job. Deshalb 1985 Umzug nach Dublin und erste Versuche als Irland-Korrespondent für die taz, zwei Jahre später auch für Großbritannien zuständig. Und dabei ist es bisher geblieben. Verfasser unzähliger Bücher und Reiseführer über Irland, England und Schottland. U.a.: „Irland. Tückische Insel“, „In Schlucken zwei Spechte“ (mit Harry Rowohlt), „Nichts gegen Iren“, „Der gläserne Trinker“, "Türzwerge schlägt man nicht", "Zocken mit Jesus" (alle Edition Tiamat), „Dublin Blues“ (Rotbuch), "Mein Irland" (Mare) etc. www.sotscheck.net

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