Die Wahrheit: Lateinisches Koma (Teil 1)
Man sah die Narbe erst, nachdem meine Haare etwas schütter geworden waren. Inzwischen ist sie verblasst. Ich hatte sie mir am 4. Dezember 1971 zugezogen.
M an sah die Narbe erst, nachdem meine Haare etwas schütter geworden waren. Inzwischen ist sie verblasst. Ich hatte sie mir am 4. Dezember 1971 zugezogen. Damals ging ich in die Abiturklasse der Berliner Walther-Rathenau-Schule und hatte erhebliche Probleme im Fach Latein. Allerdings fielen die Lateinstunden öfter aus, weil unser Lehrer Franz S., der eine bemerkenswerte Frisur mit drei Scheiteln hatte, Alkoholiker war.
Er hatte stets eine Fahne, seine Ausreden für sein Zuspätkommen waren genial. Einmal sei der Doppeldeckerbus in einer Kurve einfach umgefallen, und die Fahrgäste mussten aus dem Fenster krabbeln. Ein anderes Mal erklärte er uns, dass seine Uhr seit Monaten eine Stunde vorgegangen sei. Am Vorabend habe er sie richtig gestellt, das aber am nächsten Morgen vergessen und geglaubt, es sei noch immer eine Stunde früher als auf seiner Uhr.
Eines Tages stellte ihm die Schulleitung einen Referendar an die Seite. Gernot E., der von uns „Kaktus“ getauft wurde, weil er genauso aussah, kam frisch von der Universität und hatte offenbar gelernt, dass man sich mit den Schülern gut stellen sollte, um maximale Leistungen aus ihnen herauszuholen, was bei mir jedoch auf unfruchtbaren Boden fiel, weil mir Ablativ und Vokativ ein Buch mit sieben Siegeln blieben. Hätte ich doch bloß Latein abgewählt und Französisch behalten, aber Dr. Huhn, der Französischlehrer, hatte mir nachdrücklich klargemacht, dass er in seinem Unterricht gerne auf mich verzichten würde.
Hätte ich Latein abgegeben, wäre mir auch diese Party erspart geblieben, zu der „Kaktus“ die gesamte Lateinklasse zu sich nach Hause einlud. Wir sollten lediglich ein paar Schallplatten mitbringen. In der deutschen Hitparade standen die Pop Tops mit „Mamy Blue“ an der Spitze, auf dem dritten Platz rangierten Roy Black und Anita mit „Schön ist es, auf der Welt zu sein“, aber das war nicht unsere Musik.
Am Nachmittag hatten wir uns den Film „Blut an den Lippen“ von Harry Kümel angesehen, der an dem Tag in den deutschen Kinos anlief und später zum Kultfilm wurde. Es ist ein Vampirfilm über die ungarische „Blutgräfin“ Elisabeth Báthory, die in einem Hotel in Ostende auffälliges Interesse an dem frisch vermählten Paar Stefan und Valerie zeigt. Man ahnte von Anfang an, dass die Sache für das junge Ehepaar nicht gut ausgehen würde, aber weil die „Sekretärin“ der Blutgräfin von Andrea Rau gespielt wurde, die als spärlich bekleidete „Anita“ in zahlreichen Bildgeschichten der satirischen Zeitschrift Pardon unsere Aufmerksamkeit erregt hatte, hielten wir tapfer bis zum Schluss durch.
Der 4. Dezember war ein bitterkalter Tag. Am Morgen hatte in der Martin-Luther-Straße in München die erste McDonald’s-Filiale in Deutschland eröffnet – ein denkbar schlechtes Omen für kulinarische Experimente, wie sich herausstellen sollte. Doch dazu später mehr. Um uns aufzuwärmen, begrüßte uns „Kaktus“ bereits an der Wohnungstür mit einem Glas Cognac. Und damit nahm das Verhängnis seinen Lauf.
Den Rest der Geschichte erfahren Sie am nächsten Montag.
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