Die Wahrheit: Tsunami aus Blabla
Der Redner schwankt an seinem Pult, als befände er sich am Steuer eines Fischkutters bei Windstärke neun. Der Eindruck ist gewollt. Ein Tauchgang in die maritime Metaphernwelt.
Der Redner schwankt an seinem Pult, als befände er sich am Steuer eines Fischkutters bei Windstärke neun. Doch der Eindruck ist gewollt, denn Dirk Jüvenich ist mitten in seinem Element – und er, der Steuermann, hält rechtweisenden Kurs. Als Einziger.
#Es ist ein eindrucksvolles Schauspiel, das der Abgeordnete Jüvenich seinen Zuhörern vom Abwasser-Zweckverband Oldenburg bietet. Und seine sturmerprobte Rhetorik steht seiner expressiven Körpersprache in keiner Weise nach: „Noch befinden wir uns im Auge des Taifuns“, ruft er in die nüchtern ausgeleuchtete Turnhalle, „aber bald schon wird die Ruhe vor dem Sturm vorbei sein. Und wenn wir erst vom Mahlstrom der Katastrophe erfasst werden, wenn der Kaventsmann dreimal an die Planken donnert, dann stehen wir bereit, bereit, der weißen Witwe zu trotzen!“
Zaghafter Applaus begleitet den Redner von der Bühne, doch Ratlosigkeit überwiegt: So ganz haben die Abwasser-Profis die stark wasserbetonte Metaphernwelt des Abgeordneten Jüvenich nicht entschlüsseln können. Vor allem blieb unklar, was der Kaventsmann in den Kläranlagen Oldenburgs zu suchen hat. Und wer verbarg sich hinter der weißen Witwe?
Doch diese gewisse Ratlosigkeit, die seine Rede meist hinterlässt, ist der Motor von Jüvenichs politischem Auftrag. „Bei der nächsten Rede funkt es bei den meisten Zuhörern. Dann brechen die Dämme ihrer Vorurteile, dann packe ich sie an der Ruderpinne und lotse sie in den sicheren Hafen unserer politischen Werteordnung.“
Eines ist klar: Dirk Jüvenich ist in seiner ostfriesischen Heimat tief verwurzelt. Der 34-jährige Abgeordnete macht auch gar keinen Hehl aus seiner schicksalhaften Verbundenheit zu Wind und Sturm, Ebbe und Flut, zu Deichen und Dämmen, Alliterationen und Apfelkorn. Seit frühester Kindheit ist sein Denken und Deuten von der rauen Natur der Nordseeküste geprägt. Und so ist es nur natürlich, dass in seinen Reden, Statements und Presseerklärungen Wasser und Wellen eine nicht ganz unbedeutende Rolle spielen.
Letzthin war es ein Interview mit dem Emdener Deichboten, das im Sommer dieses Jahres Schockwellen durch die Republik schickte. Im Gespräch hatte Jüvenich angedeutet, es gebe in seiner Fraktion bereits Pläne für einen unmittelbar bevorstehenden europäischen „Rohrbruch“. In der ohnehin aufgepeitschten Krisenstimmung im Haifischbecken Berlin wurde sofort Sturmwarnung gegeben. Jüvenich ruderte zwar gleich nach dem Erscheinen des Interviews zurück – er habe nur sagen wollen, dass er und seine Partei auf alle Großwetterlagen vorbereitet seien, aber da war das Kind schon in den Brunnen gefallen. Jüvenich hätte eigentlich ahnen müssen, dass die Kuh nicht mehr vom Eis zu holen war – schließlich war es nicht das erste Mal, dass seine feuchten Worte hohe Wellen schlugen, hatte er doch auch in der Vergangenheit mit seinen Äußerungen schon des Öfteren einen Sturm im Wasserglas der Republik entfacht.
Unvergessen sein Kommentar zur Strom-Einspeiseverordnung, die er eine „Havarie des Überflusses“ nannte. Aktenkundig auch sein Angriff auf den politischen Gegner, dem er einen „Dammbruch des Demokratieverständnisses“ vorhielt, unverzeihlich sein Ausrutscher, als er dem Umweltminister vorhielt, „den Friesennerz seiner politischen Ideale an der Garderobe“ abgegeben zu haben.
Seine nautischen Neigungen verführen Dirk Jüvenich auch regelmäßig zu überschäumenden Sprachbildern, in denen Starkregen, Sturzseen und Sturmtiefs nur so auf den Zuhörer einprasseln. Sicher, das Toben und Tosen eines bildungspolitischen Tsunamis hat kaum ein anderer Volksvertreter in derart eindringliche Worte gefasst, doch den meisten politischen Beobachtern schwant bereits, dass die bisher gebotenen rhetorischen Kabinettstückchen nur die Spitze des Jüvenich’schen Eisberges darstellen. Und so manch einer hofft daher inständig, der selbsternannte Lotse durch die Untiefen der Politik möge doch möglichst bald über Bord gehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau