Die Wahrheit: Wo du gerade stehst
Ob ich langsam taub werde, fragte meine Tochter besorgt. ...
O b ich langsam taub werde, fragte meine Tochter besorgt. Keineswegs, beruhigte ich sie, merkte aber umgehend, dass ich mir ihre Besorgnis nur eingebildet hatte. „Du wirst alt“, höhnte sie, „du bekommst graue Haare. Und jetzt auch noch Altersschwerhörigkeit. Deshalb drehst du den Fernseher immer so laut auf.“ Das tue ich nur, weil sie ständig telefoniert und ich beim „Tatort“, wo man genau aufpassen muss, den Faden verliere, wenn der Fernseher zu leise ist.
Die Gattin schläft dagegen trotz der Fernsehlautstärke beim „Tatort“ ein. Aber im Unterbewusstsein hört sie wie ein Luchs. Sobald ich aufstehe, um auf die Toilette zu gehen, wird sie wach. Dann kommt der gefürchtete Satz, der so anfängt: „Wo du gerade stehst …“ Wenn ich Glück habe, wünscht sie nur eine Tasse Tee.
Wenn ich Pech habe, kommen noch Schnittchen, dünn mit Käse oder Schinken belegt, sowie Gurkenschnitze und geviertelte Tomaten hinzu. Sie werde mir bei meiner Rückkehr erzählen, wie sich die Mördersuche beim „Tatort“ inzwischen entwickelt habe.
Dazu kommt es jedoch nie. Wenn ich ihr das opulente Mahl servieren will, ist sie längst wieder eingeschlafen. Sie kennt den Anfang von jedem Krimi und das Ende von keinem. Ich hingegen kenne den Anfang und das Ende der Filme, habe jedoch in der Mitte erhebliche Lücken, was es erschwert, der Geschichte zu folgen.
Es nützt auch nichts, Stunden vor dem „Tatort“ die Einnahme von Flüssigkeit einzustellen. Meine Versuche, blitzschnell zum Klo zu huschen und so zu tun, als würde ich die Wo-du-gerade-stehst-Rufe nicht hören, sind ebenfalls zum Scheitern verurteilt. Dazu bin ich nicht abgebrüht genug.
Mein Großvater hat übrigens bis zu seinem Lebensende nicht zugegeben, dass er etwas schwerhörig war. Dabei hatte er dazu jedes Recht, er ist über 90 Jahre alt geworden. Aber eine Frage kam in seinem Wortschatz nicht vor: „Wie bitte?“
Er verstand immer irgendetwas, was manchmal zu ungewöhnlichen Gesprächen führte – vor allem, wenn der Gesprächspartner nicht bemerkte, dass Opa sich aus den Wortfetzen, die bei ihm angekommen waren, etwas falsch zusammengereimt hatte.
Vor langer Zeit fuhren wir in den Urlaub nach Bayern. Vater und Großvater saßen vorne, die Frauen und ich hinten. Am Rande der Autobahn stand in einiger Entfernung ein Sendemast. „Der glänzt aber schön in der Sonne“, meinte meine Mutter. Opa, in der Annahme, sie spreche über das Auto vor uns, erwiderte: „Klar, ist ja auch metallic.“ Der sei ganz schön hoch, sagte meine Mutter. „Ach was“, antwortete mein Großvater, „der liegt doch eher niedrig.“
Wenn er so niedrig wäre, bräuchte er ja kein Warnlicht für Flugzeuge auf dem Dach, entgegnete meine Mutter. Opa glaubte, seine Tochter habe den Verstand verloren: „Bist du närrisch? So tief fliegt kein Flugzeug, dass ein Auto eine Warnlampe auf dem Dach benötigt.“ Jetzt ging meiner Mutter ein Licht auf. „Vati, ich rede doch über den Sender“, sagte sie. Opa drehte sich um, zeigte ihr einen Vogel und meinte: „Blödsinn, das ist doch kein Simca.“
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