Die Wahrheit: Schläfrige Champions
Die neue Wiederentdeckung der Langsamkeit.
Wichtiger Termin! So gegen 11 Uhr in Raum 202.“ Betriebsleiter Grobschütz hatte alle Mitarbeiter der Pliese-Trikotagenfabrik zu einer Besprechung zusammengetrommelt. Was er ihnen wohl diesmal Weltbewegendes zu verkünden hatte? Wahrscheinlich wollte er wieder die neuesten Erkenntnisse aus seinem letzten Management-Seminar in die Praxis umsetzen. Vielleicht eine Weihnachts-Verkaufsoffensive wie schon im letzten Jahr? Oder doch eher eine neuerliche Optimierung der Betriebsabläufe.
In unser schnelllebigen Zeit, in der die rasende Hektik und sinnlose Hast in alle Lebensbereiche, besonders aber in die geschäftige Arbeitswelt getragen wird, hat sich seit einiger Zeit ein entgegengesetzter Trend entwickelt. Dabei geht es um die Wiederentdeckung der Langsamkeit.
Irritierend war nur die Zeitangabe „so gegen 11 Uhr“. Was war da los? Sonst explodierte Grobschütz doch schon bei der geringsten Unpünktlichkeit. Vielleicht rührte die neue Gelassenheit von dem Workshop her, der unter dem Motto „Slow down – Vorsprung durch Entschleunigung“ gestanden hatte.
Und tatsächlich, diesmal gab es keinen Anschiss, als die letzten Kollegen gegen halb zwölf endlich in den Sitzungssaal eintrudelten. Betriebsleiter Grobschütz kam gleich zur Sache und verkündete den überraschten Angestellten einen radikalen Wechsel der Pliese-Unternehmenskultur. „Wir müssen weg von der hektischen Jagd nach immer neuen Wachstumszielen, wir müssen das Kreativpotenzial unserer Mitarbeiter mit einer neuen Kultur der Entschleunigung hätscheln. Slow down statt start up. Behutsame Erkundung der Kundenwünsche statt aggressive Nahkampf-Verkaufe. Wecken wir den bedächtigen Kundenversteher in uns!“
Auslöser dieses radikalen Wandels der Betriebsführung war die im Bundeswirtschaftsministerium gereifte Einsicht, dass die nicht wettbewerbsfähige griechische Wirtschaft nur durch einschneidende Produktivitätssenkungen in Deutschland eine Chance auf Erholung bekäme. „Wenn Griechenland aus eigener Kraft nicht die Produktivität erhöhen kann“, erklärte Wirtschaftsminister Rösler, „dann müssen wir eben etwas langsamer treten, damit der Grieche aufholen kann.“
Zwei Wochen später hat Grobschütz’ Easy-going-Direktive für erstaunliche Effekte im Pliese-Werk gesorgt. Er selbst geht mit gutem Beispiel voran. Mitarbeiterführung, früher ein Euphemismus für gnadenlose Bloßstellung und Demütigung bei kleinsten Vergehen, besteht nun in sorgsamen Streicheleinheiten der sensiblen Kollegenseelen.
Und wenn es gar nicht anders geht, greift Grobschütz zum antiken Wählscheibentelefon und ruft den Mitarbeiter an. „Machen Sie endlich Pause, Hülvenscheidt! Ihre Arbeitswut stört den Betriebsfrieden. Nachhaltig!“ Wutentbrannt knallt er den Bakelit-Hörer des Fernsprechers auf die Gabel. „Manche Kollegen wissen gar nicht, was sie anrichten. So werden die Griechen nie mehr auf die Beine kommen.“
Die vorsintflutliche Telekommunikationsausstattung ist selbstverständlich keine Marotte, sondern Programm. Seit der Einführung des Handy-Verbots hat sich der Geräuschpegel auf das Niveau eines Handelskontors des 19. Jahrhunderts eingependelt. Nur Betriebsleiter Grobschütz verfügt über einen eigenen Fernsprechapparat. Für die Mitarbeiter wurde eine ausrangierte Telefonzelle in der Mitte des Großraumbüros platziert. „Allein durch diese Maßnahme konnten wir die ungesunde Wachstumshysterie um 40 Prozent senken“, erklärt Grobschütz.
„Anfangs war es für die Kollegen ungewohnt, sich für jedes Telefonat in der Schlange vor der Telefonzelle anzustellen. Aber Sie glauben gar nicht, wie sehr diese Kultur des Trödelns das menschliche Miteinander in der Firma positiv beeinflusst hat.“ Auch die mittlerweile übliche Siesta nach dem Mittagessen sorgt im wahrsten Sinne des Wortes dafür, die schlummernden Potenziale der Mitarbeiter nicht allzu frühzeitig zu „wecken“.
Natürlich ist man auch hier nicht vor Rückschlägen gefeit: Immer wieder kommt es vor, dass ein übermotivierter Kollege die Entschleunigung nicht verinnerlicht hat und in alte Verhaltensmuster zurückfällt. Dann kann Grobschütz schon mal laut werden und eine Zwangspause in der Hängematte anordnen.
Aber diese Fälle sind relativ selten, und insgesamt ist Pliese auf dem besten Weg, Deutschlands Slow-Production-Vorzeigeunternehmen zu werden. Unlängst wurde die Firma von der Vereinigung mittelständischer Unternehmer zum „Schläfrigen Champion 2012“ gekürt. Bleibt zu hoffen, dass Betriebsleiter Grobschütz nicht den Termin der feierlichen Preisverleihung in der Stadthalle Meppen verschläft – und Griechenland nicht die einmalige Chance zur Erholung verschläft.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!