Die Wahrheit: Berlins letzter Kachelofen
Er ist groß, klobig, hat fahle gelbe Kacheln, die sich farbig in kein Einrichtungskonzept fügen...
E r ist groß, klobig, hat fahle gelbe Kacheln, die sich farblich in kein Einrichtungskonzept fügen, und ist der Höhepunkt jeder Führung durch unsere neue Wohnung. „Aha, der Kohleofen“, sagt der Besuch dann im gefassten Tonfall eines Arztes, der sich beim Betrachten eines sehr komplizierten Falls gegenüber dem Patienten nichts anmerken lassen will. „Also damit heizt ihr, ja?“, wird dann gefragt. Ja, genau! Damit wird bei uns geheizt.
Erst konnten wir es selbst nicht glauben. Eine Wohnung mit Kohleofen? Gibt’s das noch in der Hauptstadt? Aber die Ofenheizungwohnung war ruhig, gut geschnitten, hell und vor allem unglaublich billig. „Eigentlich seid ihr dafür schon zu alt“, stellten meine Eltern besorgt fest, als sie von der neuen Wohnung Wind kriegten. Ich erklärte ihnen geduldig, dass heizen keine Altersfrage ist, sondern eine Sache der klugen Logistik.
Es müssen immer genügend Briketts, Holzstücke, Zeitungen und Anzünder neben dem Ofen liegen, damit man gleich nach dem Aufstehen und dann wieder abends beim Heimkommen mit dem Heizen beginnen kann. Nichts ist schlimmer, als morgens bei acht Grad Innentemperatur festzustellen, dass man erst mal in den Keller muss, um Kohlen raufzuschleppen.
Aber es gibt auch Vorteile. Als Bewohner einer Ofenheizungwohnung ist man auf Partys schnell der exotische Mittelpunkt. Ergriffen lauschen Partygäste meinen Erzählungen vom letzten Kachelofen Berlins. Und sie sagen kluge Sachen wie, dass der Kachelofen „natürlich eine ganz andere Wärme“ verströmt als die schnöde Heizung. „Die Strahlungswärme ist wirklich was ganz Besonderes“, kriege ich zu hören. Mussten die schon mal mit Russenmütze auf dem Kopf schlafen gehen? Ich schon!
Das mit der Strahlungswärme ist esoterischer Quatsch. Meistens ist es verdammt kalt bei uns. Man verbrennt sich dauernd die Finger, schleppt sich ständig mit dem Kohleneimer ab und steht beim Entsorgen der Asche unten im Müllcontainer in gigantischen Staubwolken. Wegen so was machen sie in Island den Flugverkehr dicht.
Brennende Mülltonnen kannten wir bis vor einigen Wochen nur aus New Yorker HipHop-Videos. Neulich Abend gab es ein Feuer in unserer Mülltonne. Die ganze Straße lag unter dichtem Qualm, und wir wussten sofort, wer schuld war. Wir hatten heiße Asche in die Tonne gefüllt und verbrachten die nächsten Stunden damit, Wassereimer nach unten zu schleppen, um den Brand im Container zu löschen.
Sehr verdächtig fühlt man sich immer dann, wenn man sich bei Frost und Schnee im Supermarkt mit mehreren Großpackungen Grillanzünder bevorratet. Ich befürchte immer, mit einem militanten Gentrifizierungsgegner verwechselt zu werden und mein Foto mit der Überschrift „Zündet sie gleich einen Porsche an?“ in einer Boulevardzeitung wiederzufinden.
Allerdings frage ich mich, wie diese Autozündler das machen, mal eben im Vorbeigehen mittels Grillwürfel einen Elfer abfackeln? Ich brauche Stunden, bis mein Ofen brennt. Wäre für Tipps total dankbar. So unter Gentrifizierungsgegnern.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Friedensforscherin
„Wir können nicht so tun, als lebten wir in Frieden“
Klimaneutral bis 2045?
Grünes Wachstum ist wie Abnehmenwollen durch mehr Essen
Leak zu Zwei-Klassen-Struktur beim BSW
Sahras Knechte
CDU-Chef Friedrich Merz
Friedrich der Mittelgroße
Nach Hitlergruß von Trump-Berater Bannon
Rechtspopulist Bardella sagt Rede ab
Prozess gegen Maja T.
Ausgeliefert in Ungarn