Die Wahrheit: Die Demütigung des Y
Unzufriedenheit, Neid, Eifersucht: Beim 50. Bundeskongress der Buchstaben sorgen die avantgardistischen Umlaute für Tumulte.
SCHWÄBISCH MÖCKMÜHL taz | Sie sehen so harmlos aus: Buchstaben. Mal eckig, mal rund, groß oder klein, fügen sie sich aufs Schicklichste zu Wörtern zusammen. Aber der Schein trügt. Unter einigen Buchstaben herrscht massive Unzufriedenheit, genährt aus Ausgrenzung, Eifersucht und Geltungsdrang. Die 50. Bundesversammlung der Buchstaben am Wochenende war als „Lobpreisung von Ä, Ö und Ü“ gedacht, weshalb man sich im umlautestarken Schwäbisch Möckmühl an der Jagst traf. Doch sie endete mit einem Massaker.
Dabei hatte der Kongress sehr harmonisch begonnen. Das V als Versammlungsvorsitzender hatte dem kleinen o die Vokale-Ehrennadel verliehen. Das kleine o findet sich im Zoooologen, dem Eierkundler im Tierpark, vier mal nacheinander wieder, „Rekord – und alles streng nach Duden, unser aller Mutter. Weltklasse!“ Tosender Applaus hatte eingesetzt, durchsetzt von langgezogenen oooo-Chorälen im Saal. Das kleine o wurde für einen Moment sogar rot. Nur das a klatschte nicht, weil der Raaaar (Adler auf Takelage) und der Sanaaaal (Fisch in Jemens Hauptstadt) wegen Sinnarmut durchgefallen waren.
Dann aber begann der Streit unter der Avantgarde der Buchstaben, den Umlauten, die sich gern als „ästhetische Pünktchenkönige“ (Walter Benjamin) feiern lassen. Schon im Vorfeld waren E und I samt der Nachwuchskräfte e und i beleidigt, weil es sie in Umlautform nicht gibt und sie deshalb beim Jubiläumskonvent nicht aufs Podium durften. Das nordische ø hatte ohnehin nur Beobachterstatus. Es gilt als Halbbruder des Ö, wird aber von der deutschen Umlautefamilie wegen seines komischen Klanges gern verhøhnt und „sieht halt nur aus wie Durchschnitt“, wie das Ö lästerte.
Das Ä hatte in seinem Impulsreferat „die skandalöse Sprechfaulheit der Deutschen“ angeprangert. „Kaum je werde ich noch vollkehlig ausgesprochen. Käse klingt wie Kese, häkeln wie hekeln. Krähen rufen selbst das ä, die Menschen aber machen sie klanglich zu Krehen.“ Das P applaudierte: „Genau. Und Pfeile klingen wie Feile, der Pfad ist fad geworden. Keiner spricht Pflaume und Pfirsich mehr saftig kräftig aus.“
„Ja, rettet dem ä“, mischte sich energisch der Dativ ein, der dem Konvent als Delegierter der Fälle beiwohnen durfte. „Päpperläpäpp“, ätzte indes das eitle Ü: „Veto. Mich in meiner Klangespracht spricht ja auch niemand wie u. Unser Kollege Ä ist wohl nur ein Halbumlaut.“ – „Ruhe, vorlautes Ü, du alte Übelkrähe.“ – „Äääääh, hat das nicht mal Härbärt Wähnär gesagt …?“
Man giftete sich gewaltig an. Auch das e legte ein Veto ein, es sah seinen klangheimlichen Machtzuwachs in Gefahr. Mitten in die aggressive Stimmung stellte das schüchterne Ypsilon seinen Antrag, in den erlauchten Umlaute-Kreis aufgenommen zu werden, werde es „doch häufig wie ein ü ausgesprochen“. Der Umlaute-Adel protestierte sofort. „Ach du, altes Ipsilon“, spottete das Ü, „bist doch ein Mischwesen: Sprichst dich mal ü und mal i. Überall heißt du anders, mal i grec beim Franzosen, la i griega auf Spanisch und wye im englischsprachigen Raum, wo du durch das y in der Mitte quasi Teil deiner selbst ist. Schizophren!“
Das Y hatten sogar die Buchstabenrechtskommission der UNO um ein Gutachten gebeten: „Das Ypsilon ist der Vagabund unter den Buchstaben“, stand da, „klanglich als Vokal und Umlaut genutzt, aber den Konsonanten zuzurechnen – das macht ihn zum Staatenlosen ohne Rechte, ohne Lobby, ein Getriebener ohne Identität.“ Ja, man könne sogar sagen: „Das y ist ein heimatloser Zwitter. Gäbe es Transsexualität unter Buchstaben, das y wäre erster Anwärter auf eine OP.“
Schallendes Gelächter. Tumulte folgten, sogar Strichgreiflichkeiten. „OP kannste haben, du Memme“, brüllte das starke M und radierte dem weinenden y seinen Zipfel ab. Die y-Sympathisanten x und u klauten darauf dem applaudierenden Q das Häkchen, derweil das O umgeschubst in zwei Klammerhälften zerfiel und drei kleine i sich balgten, bis sie enthauptet als banale Bindestriche und Punkte herumlagen. Kurz: Die Versammlung endete im Buchstaben- und Satzzeichensalat.
Erst der Hausmeister der Begegnungsstätte Schwäbisch Möckmühl konnte die verstümmelten Streithähne wieder einen: Beim Aufräumen warf er sie allesamt in seine köstlich dämpfelnde Hühnerbrühe. „Ällweil a guts Sübble“, sagt er schmatzend.
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